Hans-Peter Dr. Vogt

Die unschuldige Königin


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Asha lebte, standen ein Peterwagen und ein Bus. Ihre Eltern wurden gerade in den Bus gestoßen.

      Bengasi hielt Asha mit einem Arm fest, mit der andern Hand hielt er ihr den Mund zu. „Still. Da können wir jetzt nicht mehr helfen. Das sind die Ausis:“ So nannten die Kids die Beamten der Ausländerpolizei, die stets in Zivil erschienen. „Lass uns verschwinden.“ An diesem Tag hatte Bengasi Asha mit in den geheimen Bunker genommen, dort unter Berlin. Asha hatte viel geweint, aber sie hatte nach einer Weile gelernt, dass die Kids im Bunker wirklich gute Freunde waren. Sie waren alle durch ein ähnliches Schicksal miteinander verbunden. Irgendwie waren sie alle ausgebüchst. Mal weil der Vater prügelte, mal, weil die Mutter soff oder hurte. Einige waren aus dem Jugendheim ausgerissen und hatten irgendwie zu den Kids gefunden. Anderen war es genauso ergangen, wie Asha.

      Es gab wirklich viele afrikanische, arabische, indische, und pakistanische Kinder hier unten im Bunker, in allen Farben. Auch aus Haiti und Cuba. Asha selbst war sehr dunkel, aber sie hatte helle Handflächen, rote Lippen, große braune Augen und sie trug ihr Haar in Rastalöckchen, in die kleine Bänder oder Schleifen gebunden waren.

      Asha ist jetzt seit 2 Jahren bei den Kids im Untergrund. Sie hatte gelernt, sich hier unten im Netz der U-Bahntunnels einzuleben. „Der Bunker“, wie sie das nennen, war früher einmal ein Schutzraum der Stasi gewesen. So genau wissen die Kids das aber nicht. Es gibt hier eine fest verschlossene Tür, geheime Zeichen, Licht, Wärme und eine Toilette für alle. Sie haben hier richtige Betten und eine richtige Küche und sogar ein Krankenzimmer. Der Strom wird illegal gezapft, und, oh wunder, bisher war das nie aufgefallen.

      Asha lebt jetzt, wie alle andern Kids hier unten, vom Diebstahl. Manchmal geht sie in die Berliner Suppenküchen zum essen. Mal ins Musikzentrum vor den Toren Ostberlins, manchmal in eine der Wohnungen, die irgendwelche Freunde oben in Berlin für die Kids eingerichtet haben. Dort können sie auch duschen und baden. Dort kommt auch immer mal ein Frisör hin und ein Arzt, der die Kinder regelmäßig untersucht. Irgendwelche Freunde schicken sie, die sich um das Wohl der Kinder sorgen.

      Kleidung ist kein Problem. Dafür gibt es Rotkreuzcontainer. Ordentliche Sachen werden meißt geklaut. Die Kids haben da ein einzigartiges System entwickelt. Sie schirmen sich gegenseitig ab und geben sich geheime Zeichen, wenn die Luft rein ist.

      Asha hat in den zwei Jahren gelernt, sich in verschiedenen Sprachen zu unterhalten und sie hat auch so ein Kauderwelsch, mit dem sie sich in deutsch sehr gut verständigen kann. Das ist in ihrer multikulturellen Gruppe die Verkehrssprache, die alle irgendwie wenigstens etwas beherrschen.

      Es gibt hier unten sogar eine Art Schule. Regelmäßig und für alle. Schreiben, Lesen, Rechnen, Erdkunde, Wetterkunde, PC-Kunde. Alles, was sie im Leben brauchen können.

      Asha ist aber immer noch ein kleines Mädchen und kleine Mädchen brauchen manchmal viel Wärme und Geborgenheit. Asha und die andern Mädchen unten im Bunker kriechen oft zusammen in ein Bett und halten sich warm.

      Wenn Elvira da ist, kriecht Asha gerne zu ihr. Manchmal liegen sie sogar zu dritt oder zu viert in einem Bett. Elvira ist für Asha etwas Besonderes. Sie ist einer dieser Freunde aus der „Welt des Lichts“.

      Elvira beteiligt sich nie an den Diebestouren der Kids, aber sie beobachtet, sie schirmt ab und sie gibt Tipps. Sie besorgt auch die Monatskarten für die U-Bahn, die für die Kids überlebenswichtig sind. Elvira hat irgendwo in Berlin ein richtiges Zuhause, aber sie lebt manchmal dort in diesem „Musikzentrum“ bei ihrer Großmutter. Ihr Großvater ist der große Leon, den hier unten alle nur „Großvater“, „Opa“, „Granni“ oder den „Grande“ nennen.

      Nun. Leon ist für alle Kids hier unten der „Großvater“, aber für Elvira ist er wirklich der leibliche Großvater, und Elvira, die hat etwas von den sagenhaften Kräften, die auch Großvater Leon besitzt.

      Elvira ist nicht immer da, aber sie ist eine der Verbindungen in die Außenwelt, die bei den Kids als „die Welt des Lichts“ gilt. Sie, ihre beiden großen „Schwestern“ Lara und Maria und ihr großer „Bruder“ Pablo. Eigentlich sind das für Elvira Tanten und Onkels, aber das genau zu unterscheiden ist den Kids egal.

      Das Leben hier unten ist nicht leicht und es gibt strenge Regeln, die das Überleben sichern. Aber sie sind hier wie eine große Familie. Sie sorgen füreinander und sie haben gelernt, zu lachen und fröhlich zu sein. Dabei ist das Leben im Untergrund alles andere als ungefährlich. Da gibt es die Überwachungskameras auf den Bahnsteigen, die schnellen Züge mit ihrem gewaltigen Sog, der dich durch die Luft wirbelt, wenn er dich erfasst. Es gibt die Bahnpolizei und die Sicherheitsinspektoren. Auch beim Klauen müssen sie höllisch aufpassen, und wenn sie sich oben „in der Welt des Lichts“ bewegen, müssen sie die Augen gut aufmachen, damit sie nicht verfolgt werden.

      Wer das alles zum ersten Mal erlebt, der kann vor Angst und Vorsicht die Lebenslust verlieren, aber die Kids haben sich diese Vorsicht zu eigen gemacht. Sie ist in Fleisch und Blut übergegangen,

      Wie schnell kann man fahrlässig werden. Unachtsam, weil die Vorsichtsmaßnahmen so antrainiert sind, dass man manchmal gar nicht mehr so genau darauf achtet. Es gibt deshalb einen strengen Sicherheitscodex. Die Kids gehen fast nie alleine. Sie schirmen sich gegenseitig ab, und sie beschützen sich, wenn sie unterwegs sind.

      Es gibt auch andere Gefahren. Konkurrierende Gangs, rabiate Kontrolleure, Fahnder in Zivil. Aber die Kids kennen sich im Untergrund aus. Sie kennen alle die U-Bahnschächte, Quergänge und Nischen. Schon oft hatten sie die Notbremse gezogen, und waren in den Gängen verschwunden, wenn es brenzlig wurde. Nur die Inspektoren getrauen sich, ihnen in die Gänge zu folgen, aber die Kids sind höllisch schnell. Das hier unten, das ist ihre Welt. Sie sind wie die Ratten, und so seltsam sich das anhört, die Ratten hatten die Kids schon oft beschützt. Sie hatten sich Kontrolleuren in den Weg gestellt, oder sie hatten Mitglieder anderer Gangs angegriffen.

      Es gibt da so ein Gerücht, dass Großvater Leon der König der Ratten sei. Sie haben ihn schon oft danach gefragt. Opa Leon hat stets gelächelt. „Schaltet nie eure Vorsicht aus. Verlasst euch immer auf euch selbst. Es kann solche Situationen geben, dass ihr die Hilfe von Freunden braucht. Ihr müsst eins wissen. Die Ratten sind die wahren Herrscher der Unterwelt. Sie sehen alles. Sie riechen euch auf einen Kilometer. Wir haben seit langem einen Pakt miteinander. Achtet und beschützt die Ratten, dann werden sie auch euch achten und beschützen.“

      „Und wie ist es mit den andern Gangs“, hatten die Kids gefragt und Leon hatte gelächelt. „Dieser Pakt gilt nur in unserer Familie. Die Ratten sind ein Teil davon. Vergesst das nie und sorgt für die Ratten, wie für eure eigenen Brüder und Schwestern.“

      Asha und die Freunde haben sich das zu Herzen genommen, und manchmal bringen sie den Ratten Brot, Käse, Wurst, Obst und Gemüse. Die Container bei den Discountern quellen davon über, und den Ratten ist es egal, ob es schimmlige oder faulige Stellen gibt. Sie fressen alles. Es ist noch nie vorgekommen, dass die Ratten ihnen etwas getan haben. Ihnen nicht. Anderen schon.

      Asha hat gelernt, vor den Ratten keine Angst zu haben. In den Gängen des Tunnels wird sie oft von den Ratten begleitet. Sie springen vor, oder neben ihr her und sie wispern. Wenn ein Zug kommt macht es Husch. Weg sind sie. Dann weiß auch Asha, dass es gefährlich wird, und sie sucht sich sofort eine dieser schützenden Nischen, die auch den Kontrolleuren einen sicheren Zufluchtsort bieten.

      Jetzt liegt sie in den Armen ihrer großen Freundin Elvira und sie ist glücklich. Sie kuschelt sich an diesen warmen Körper, sie fühlt sich geborgen, und sie schläft sofort ein.

      1.2.

      Elvira ist jetzt wach und sie denkt, wie so oft, an ihre eigene Geschichte.

      Sie ist hier unten ein Teil der Familie der U-Bahn-Kids, und sie hat noch zwei Leben, oben in der „Welt des Lichts“. Eines bei ihrer leiblichen Familie. Bei ihrer Mutter, bei ihren drei kleinen Geschwistern und bei ihrem Stiefvater. Das andere Leben ist bei Großmutter