Hans-Peter Dr. Vogt

Die unschuldige Königin


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genommen, in die U-Bahn, in die Schächte und in den „Bunker“. Elvira kann sich nicht mehr daran erinnern, wann das war, solange ist das schon her. Damals hatte sie zum ersten Mal die Kids im Untergrund kennengelernt, und seitdem ist sie immer wieder hier unten. Nicht regelmäßig, das läßt die Zeit nicht zu, aber so oft sie kann.

      Mama ist Mexikanerin und Papa? Nun ja, er ist Peruaner, aber er hatte Mama damals einfach angebummst. Mama war nicht die einzige. Papa hatte es ziemlich wild getrieben. Unanständig wild. Elvira kennt nicht einmal alle ihre Geschwister. Sie hat mindestens 35 davon. Allein der Gedanke macht Elvira schwindlig. Großvater Leon war schließlich der Kragen geplatzt. Er musste fuchsteufelswild gewesen sein.

      Jedenfalls hatte Opa Leon ein Machtwort gesprochen. Er hatte Mama einfach mitgenommen nach Deutschland. Oma Katharina (die eigentlich gar nicht Elviras richtige Großmutter ist), hatte Mama mit offenen Armen bei sich aufgenommen. Das war, bevor Elvira geboren wurde.

      Elvira war in Berlin zur Welt gekommen. Ihre ersten Lebensjahre hatte sie bei Mama und Oma Katharina in dieser riesigen Wohnung im Musikzentrum verbracht. So war sie in das Geschehen einfach hineingewachsen, in all diese Musik-, Tanz-, und Filmgruppen, in die Welt der Cracks auf den Halfpipes, in all die Läden, Restaurants und die ständigen Besucherströme. Das ist wie eine eigene Stadt vor den Toren Berlins.

      Tante Lara (die Tochter von Oma Katharina) war wie eine zweite Mutter für sie gewesen und Aysa, die Leiterin der ganzen türkischen Imbissstuben im Zentrum, die war für sie wie eine zweite Oma gewesen. Drei von Aysas fünf Kindern hatten längst eigene Kinder. Mit denen ist Elvira zusammen aufgewachsen. Es war nur natürlich gewesen, dass Elvira ihre Nachmittage irgendwo im Zentrum verbrachte. Sie brauchte nur aus der Wohnungstür zu treten und schon war sie im Mittelpunkt des Geschehens.

      Als die Enkelin der Chefin des Musikzentrums (als die Elvira immer angesehen wird), ist sie in einer privilegierten Situation. Alle Türen stehen ihr offen, und weil dieses riesige Gebäude mit all den Aktivitäten, und den Tausenden von Besuchern, Elviras Leben bestimmt, ist es nur natürlich, dass sie sich hier bestens auskennt. Das „Zentrum“, wie es bei den Kids heißt, das bestimmt zu einem großen Teil Elviras Leben und Denken.

      Oma Katharinas Wohnung ist ganz oben unter dem Dach. Ein Aufzug und eine Treppe führen hinauf. Beides ist gesichert. Es gibt einen Wachdienst, der niemanden dort hinauf lässt, der dort nichts zu suchen hat.

      Man muss dieses Zentrum einmal beschreiben, um es zu verstehen. Ganz früher waren das einmal Kasernenbauten für die russischen Besatzungstruppen gewesen. Das Zentrum war damals umgeben von einem riesiges Gelände mitten in Wald. Später hatte die Staatspolizei dort ein Ausbildungsgelände und Verhörzimmer. Verfolgte des DDR-Regimes hatten hier leiden müssen. Das Gelände war berüchtigt gewesen.

      Nachdem die Mauer gefallen war, hatte das Gelände lange brach gelegen, und es war dem Verfall preisgegeben. Offiziell gehörte es jetzt dem Land Berlin. Irgendwann hatte Opa Leon gemeint, es müsse für die Berliner Jugendlichen mehr getan werden, eine Art Jugendzentrum müsse her. Naja, für so was ist in den Länderhaushalten meist kein Geld da, und die Behörden waren zunächst gar nicht begeistert.

      Opa Leon und Oma Katharina hatten dann die Idee, das mit einem Musikzentrum zu verbinden, Proberäume für Bands, Veranstaltungsräume, Musikmanagement, Säle für Tanzgruppen, ein oder zwei Tonstudios und vor allem noch etwas: eine richtige Akademie, teils in Art einer Volkshochschule, teils als richtige Ausbildung, mit Abschlüssen für instrumentale Ausbildung, Tontechnik, Videofilm, Bühnenbild und Tanz.

      Damit hatten sie die Berliner Politiker schließlich geködert. Damit hofften sie, viele Kids von der Straße wegzubringen, und das Konzept war aufgegangen. Damals gab es schon die Stiftung zur Förderung unentdeckter Talente, die Oma Katharina heute immer noch leitet. Die Stiftung verfügte damals über viel Geld. Geld, das Opa Leon aus Südamerika mitgebracht hatte, wo er mit Oma Mila diese alte Stadt der Péruche-Krieger wiederfand, und noch einiges mehr. Die alte Stadt war verschüttet worden. Sie lag unter vielen Metern aus Vulkanasche und sie fanden dort Gold, Edelsteine, Schmuck, und vor allem tonnenweise Brillianten, die sie sich mit den anderen beiden „Miteigentümern“ teilten.

      Die Stiftung verfügt wirklich über viel Geld und sie investiert unter anderem in diese Musikakademie.

      Heute ist das eine Ansammlung von fast 20 zusammengewachsenen Gebäuden, die über Gänge, Hallen, Innenhöfe und verschiedene Etagen miteinander verbunden sind. Es ist noch viel größer geworden, als das einstige militärische Gelände. Immer noch gibt es dichten Wald rings um das Gelände, es gibt aber auch diverse Sportanlagen, Halfpipes, BMX Gelände, Waldlaufpfade, ein Squash Center, Tennis. Es gibt mehrere Busverbindungen, die im Fünfminutentakt zwischen Berlin und dem Zentrum verkehren und Parkplätze.

      Die Stiftung, die inzwischen die alleinige Eigentümerin des Geländes ist, die hat inzwischen ein großes Verwaltungsgebäude gebaut. Es gibt so viele Aktivitäten. Konzerte, Tanzstudios, Betreuung für internationale Gruppen, Anwaltskanzleien, Eventmanagement, Tonstudios und natürlich die Akademie mit ihrem Schulbetrieb. Die ganzen Kellerräume sind als Übungsräume für mehr als 50 verschiedene Bands ausgebaut worden. All das muss irgendwie organisiert sein. Es gibt auch Sozialarbeiter und Wachleute. Es gibt diverse Läden für Sport, Instrumente, Kleidung. Es gibt Unmengen von Cafés, Obst- und Imbissläden, vier Bäckereien und drei Metzgereien, die auch warme Gerichte anbieten, Maultaschen, Tagliatelle und andere Nudelgerichte, Rippchen, Hacksteak mit Gemüse oder im Weinblättermantel, und natürlich Würstchen in allen Variationen, von Pommes mit Majo ganz zu schweigen.

      Schließlich gibt es auch einen Kartenvorverkauf und eine Abendkasse. An den Wochenenden spielen hier meist 10 oder 15 Bands. Alle möglichen Stile, von Klassisch bis Hiphop. Es gibt Tanzaufführungen, Theater und Sketche, Pantomime und Zauberer. Oma hat dafür gesorgt, dass auch die Straßenkünstler ein Zuhause gefunden haben. Es gibt Jongleure, Stelzenmänner, Verwandlungskünstler, alles mögliche.

      Es ist viel mehr als nur ein Musikzentrum. Es ist ein Kulturzentrum, das Tausende von Jugendlichen und auch Erwachsenen anlockt. Wenn hier am Wochenende bekannte Bands spielen, kommen manchmal 50.000 Jugendliche hierher, an einem Abend.

      All das muss organisiert werden. Ohne einen Sicherheitsdienst geht das nicht. Oma ist die Leiterin des Zentrums und sie hat einen großen Stab an Mitarbeitern.

      Was für viele Jugendliche so wichtig ist, dass ist die Chance auf eine Zukunft. Nicht nur eine vage Hoffnung, sondern eine reelle Chance. Über die Verwaltung des Zentrums kommt man in Ausbildungsberufe beim Fernsehen, beim Rundfunk, bei Tanzgruppen, im Bereich Eventmanagement und es gibt Handwerksberufe, wie Bühnenbauer, Elektriker, Lichtingenieure, Installateure. Aber auch die Bäcker und Kneipen stellen Leute ein. Bedienung, Kassierer, Tellerwäscher, Köche. Der bekannteste europäische Zauberkünstler Marco Francasi (so nennt er sich), ist aus dem Zentrum hervorgegangen. Junge Musiker und Sänger bekommen hier ihre Chance, ihren Stil zu entwickeln und groß rauszukommen. Das Berliner Fernsehen hat hier sogar ein eigenes Studio mit mehreren Teams, denn hier ist jeden Tag etwas los. Für die Presse gibt es sogar einen eigenen Raum mit Internetzugang, das was man ein ständiges Pressecenter nennt.

      Das Zentrum hat sich in Berlin zu einem Machtfaktor entwickelt, an dem niemand mehr vorbeikommt. Die Politiker geben sich bei Oma Katharina die Klinke in die Hand und auch viele Handwerker, freie Berufe und Industrielle. Wenn sie guten Nachwuchs für ihre Firmen brauchen, dann fragen sie zuallererst bei Oma Katharina nach. Die Mitarbeiter von Katharina gucken sich die „Kandidaten“ vorher an, und es gibt eine Vorauswahl an geeigneten Bewerbern für die verschiedenen Berufe. Das erleichtert den Firmen die Arbeit, und sie können ziemlich sicher sein, die richtigen Mitarbeiter zu finden.

      Oma Katharina nimmt die Firmen aber auch in die Pflicht. Falsche Versprechen werden genausowenig geduldet, wie Hungerlöhne und Verträge mit Hintertürchen.

      Elvira ist in all dieses Geschehen hineingewachsen. Dieses Zentrum ist ihre Welt. Sie kann nicht jeden kennen, aber sie kennt mit ihren 12 Jahren jeden Winkel dieses Zentrums.