Böse. Sie sorgt dafür, dass alles im Einklang miteinander bleibt. Ohne Schwarz, kein Weiß. Ohne Böse, kein Gut. Ohne Dämonen, keine Engel. Das ist eine sehr vereinfachte Ansichtsweise«, fügte Nick rasch hinzu, »aber aktuell wohl die Verständlichste.«
»Also agiert die Balance nach dem Ying und Yang Prinzip?«
»Exakt.«
»Und warum muss sie wiederhergestellt werden?«
»Seit so viele unserer Welten verloren gegangen sind, haben sich die Dämonenangriffe immer mehr auf Alliandoan konzentriert. Abbadon sieht uns als Zentrum der Macht und sie wollen die Balance um jeden Preis. Die Dämonen versuchen seit jeher, die Balance und ihre Magie zu korrumpieren. Unser Vater, er … er hat versucht, es zu verhindern. Daher haben sie ihn getötet. Seit den Tagen des Clash und auch nach dem Tod meiner Mutter und unserer Tante war er nicht mehr er selbst. Getrieben von Rachedurst war er nur noch auf Dämonenjagd und hat versucht, Abbadon endgültig von der Landkarte zu fegen. Dabei haben sie ihn erwischt.«
Wir hatten also tatsächlich keine lebenden Verwandten mehr. Natürlich hatte Nick mir das bereits gestern erzählt, aber irgendwie hatte ich dennoch gehofft, dass sich irgendwo in dem ganzen Irrsinn vielleicht noch ein Onkel oder eine Cousine befand. Dafür, dass hier angeblich alle unsterblich waren, konnten wir nicht unbedingt mit einer großen Familie trumpfen.
»Wäre das nicht ebenso kontraproduktiv, wie die Dämonen, die meinen sie könnten die Balance beeinflussen. Wenn diese Magie sowohl Schwarz als auch Weiß im Gleichgewicht hält, dann muss es auch beides geben, oder nicht?«, fragte ich.
Nick gab ein zustimmendes Geräusch von sich.
»Vollkommen richtig.«
»Das heißt, die Balance ist jetzt was …? Unschlüssig?«
»Seit dem Tod unseres Vaters gibt es keinen Thronerben in Arcadia. Das spüren nicht nur wir in Alliandoan, sondern auch die anderen Welten. Und Abbadon. Magie gerät außer Kontrolle, die Unsterblichen sind verunsichert, wohingegen die Dämonen mutiger werden. Und leichtsinniger. Genau das bringt die Balance immer weiter aus dem Gleichgewicht.«
Also war dieses Abbadon eine was? Eine Höllendimension voller Dämonen? Mein Hirn versuchte noch immer, den Gedanken an waschechte Dämonen zu verarbeiten, als Nick dem Ganzen die Krone aufsetzte. Buchstäblich.
»Abbadon ist Teil der Anderswelt«, erklärte er, »liegt jedoch außerhalb deiner Reichweite als zukünftige Königin, ebenso wie die Gilde der Assassinen.«
»Warum?«
»Abbadon wird von Lillith regiert, sie ist die Königin aller Dämonen. Sie herrscht in Abbadon seit Anbeginn der Zeit. Gemeinsam mit ihrem Gefährten Luzifer.«
Moment mal …
»Luzifer, wirklich?«
Ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte. Der gefallene Engel und Lieblingssohn Gottes. Ich war nie wirklich gläubig gewesen, aber diese Story kannte so ziemlich jeder.
»Luzifer war einst ein Engel, er ist nach wie vor ein Engel, soweit stimmen die Geschichten der Sterblichen, aber er wurde nicht aus dem Himmel verbannt, sondern er verließ Arcadia freiwillig, aus Liebe. Auch glauben wir in der Anderswelt nicht an einen allmächtigen Gott, sondern an unsere Magie und an das Schicksal.«
Nachdenklich wandte Nick sich ab und sah in den strahlend blauen Himmel hinauf. Die Sonne schob sich langsam, aber sicher, hinter den Bäumen hervor und dank seines kleinen Tricks fühlte ich mich noch immer wohlig warm und geborgen.
»Luzifer verliebte sich in Lillith und verließ seine Familie und Alliandoan, um bei ihr in Abbadon zu leben und gemeinsam mit ihr zu herrschen. Ihre Geschichte ist sogar in unserer Welt legendär. Mit Sicherheit findest du viele Bücher und Überlieferungen dazu in der Bibliothek hier und in Arcadia.«
Fasziniert folgte ich Nicks Blick und sah nach oben. Lillith und Luzifer. Abgefahren. Ein wenig … merkwürdig, immerhin sagten diese Namen sogar mir etwas – wenn auch in einem völlig anderen Zusammenhang – aber abgefahren.
Vielleicht konnte ich Olli darum bitten, mir die Bibliothek ein wenig genauer zu zeigen. Ich spürte schon jetzt, wie mein Wissensdurst erwachte.
»Was ist die Gilde der Assassinen?«
»Die besten und tödlichsten Krieger der Anderswelt«, antwortete Nick schlicht. »Zum Teil verdienen sie ihr Geld als Söldner, aber seit Jahrhunderten sind sie so etwas wie unsere übernatürliche Polizei. Sie sorgen dafür, dass niemand … übers Ziel hinausschießt. Egal ob Formwandler, Engel oder Harpyie, die Assassine sind neutral und schützen lediglich die Interessen der Anderswelt sowie ihre eigenen. Legenden besagen, dass der erste Assassine vor Jahrtausenden von der Balance selbst erschaffen wurde, um den Frieden zwischen den Welten zu wahren. Ihre Welt ist für uns andere Unsterbliche unerreichbar und verborgen. Die meisten ihrer Kräfte sind auch nach Jahrhunderten, wenn nicht sogar Jahrtausenden, noch immer ein wohl gehütetes Geheimnis. Wir«, er räusperte sich und überrascht sah ich ihn an, »wir sind mit ihnen durch eine jahrzehntealte Schuld verbunden. Aber«, fügte Nick hinzu, ehe ich noch mehr neugierige Fragen stellen konnte, »darüber wirst du zu gegebener Zeit mehr erfahren.«
»Wer ist der Anführer der Assassinen?«
Nick erwiderte meinen Blick ruhig, aber ein gequälter Ausdruck lag plötzlich auf seinem hübschen Gesicht. Und da wusste ich es.
»Lucan Vale«, flüsterte ich und beantwortete mir so meine eigene Frage. Natürlich. Es machte absolut Sinn, dass der düstere, muskelbepackte Mann, mit der bedrohlichen Ausstrahlung und den schwarzen Augen der Anführer einer Truppe tödlicher Elite-Krieger war.
»Er ist ihr König«, bestätigte Nick düster. »Er und seine Männer, die sieben besten Assassinen der Gilde, sind hier, um dich zu beschützen, Lilly. Mehr nicht.«
Was auch immer mehr nicht bedeuten sollte. Ich kannte diesen Lucan genau fünf Minuten, was genau erwartete Nick von mir? Dass ich Lucan anspringen würde, wie eine läufige Hündin, nur weil er mit Abstand der attraktivste und irgendwie auch intensivste Mann war, dem ich je begegnet war. Und was sollte das heißen, er war ihr König? Dieser grimmige, düstere Krieger sollte ein König sein?
»Komm«, unterbrach Nick meine Gedanken und hielt mir eine ausgestreckte Hand entgegen, »ich zeige dir den Rest des Hauses.« Dankbar, dass die Lucan Diskussion ein Ende hatte und ich meine Gedanken ein wenig ordnen konnte, ergriff ich seine ausgestreckte Hand und folgte Nick durch einen liebevoll angelegten Garten zurück ins Innere des Hauses. Diesmal fiel das erwartete Knistern zwischen uns ein wenig sanfter aus und ich fragte mich, ob mein Unterbewusstsein bereits dabei war, den Mann neben mir und meine neue Umgebung zu akzeptieren. Eine Umgebung, die mich mehr als nur ein wenig beeindruckte und ich erinnerte mich an Nicks Aussage bezüglich seiner Familienreichtümer. Unserer Reichtümer. Anscheinend waren die Callahans wirklich, wirklich wohlhabend. Neben mehreren bewohnbaren Zimmern in drei Stockwerken verfügte das Haus unter anderem über eine Art Krankenstation, einen Innenpool mit angrenzendem Spa-Bereich und ein bestens ausgestattetes Gym. Ich fühlte mich wirklich und wahrhaftig wie in einem Fünf Sterne Luxus Hotel.
»Und das hier ist das Trainingszentrum.« Nick wies auf eine große Doppeltür am Ende des Korridors, in dem wir soeben zum Stehen gekommen waren.
»Training?« Plötzlich nervös sah ich zwischen ihm und der Tür hin und her. Darüber, dass man von mir erwartete zu kämpfen, hatte ich mir ehrlich gesagt noch gar keine Gedanken gemacht. Aber gut, so viel wie Nick mir bereits von Kriegerinnen und Kriegern erzählt hatte, lag die Vermutung nahe.
»Du siehst ein wenig blass aus.«
»Hmm«, machte ich. Den Blick starr auf die Tür vor uns gerichtet.
»Keine Sorge«, beruhigte Nick mich lachend, »dieser Raum wird von den Wachen der Königsgarde und anderen Mitgliedern unseres Haushaltes genutzt, so wie Olli oder mir. Aktuell jedoch ist er belagert von Lucan und seinen Männern.«
Wir traten näher. Ohne groß darüber nachzudenken oder zu klopfen,