die Hand reichte und er mich hinter sich herzog. Gekonnt dirigierte er mich durch die Gänge zwischen den Tischen und führte mich aus dem Raum. Aber er hielt nicht an, sondern bog an der Ecke ab, um mich in ein anderes Zimmer zu ziehen. Es war kleiner als der Aufenthaltsraum, aber nicht weniger beeindruckend. Die Bibliothek von St. Ghidora war wunderschön, aber diese Ansammlung von Büchern übertraf alles, was ich bis jetzt gesehen hatte. Regale reihten sich aneinander, dicke Wälzer waren aufeinandergestapelt, Leselichter hingen an den Wänden, Podeste, auf denen besonders wertvolle Bände zu liegen schienen, waren im ganzen Raum verteilt und überall standen Hocker, auf denen man sich niederlassen konnte. Ich verlor mich in diesem Paradies für Leseratten, sodass ich nicht bemerkte, wie Hunter meine Hand losließ und ich meine Deckung fallen ließ. Er trat einen Schritt näher. Zu nah. Die Armlänge Abstand war nicht mehr gegeben und das machte es schwer, mir Fragen zurechtzulegen. Die Nähe zwischen uns legte meinen Verstand lahm und mein gebrochenes Herz wurde angreifbar. Automatisch trat ich einen Schritt zurück, um mehr Distanz zwischen uns zu bringen. Vielleicht würde sich der Sturm aus Gefühlen, der sich in meinem Inneren zusammenbraute, legen, wenn ich nur weit genug von ihm wegkam. Doch die Möglichkeit war nicht gegeben. Ich saß in der Falle. Eingeschlossen zwischen ihm und dem Bücherregal, das ich angestarrt hatte wie den Heiligen Gral. Blöd wie ich war, hatte ich nicht aufgepasst und der Ausgang lag weit von mir entfernt und wurde mir von Hunters Körper versperrt. Kurz legte sich ein Grinsen auf seine Lippen, bevor er mich umdrehte, sodass ich ihn ansehen musste, sich mit beiden Armen an den Büchern hinter mir abstützte und mich nicht von der Stelle ließ. Ich konnte nicht weg. Wie ein unvorsichtiges Reh, das den Jäger erst spürte, als er die Pistole an seine Stirn hielt. Eigentlich hätte ich nun Panik bekommen sollen oder den Drang verspüren wegzulaufen, aber mein klopfendes Herz und meine schweißnassen Hände hatten nichts mit Angst zu tun. Ich wollte mich befreien, ihn wegstoßen, ihn treten oder anspucken. Ich hätte nach Hilfe schreien und ihm die Augen auskratzen sollen, aber mich überkam das Bedürfnis, mich näher zu ihm lehnen zu wollen, seine Haut an meiner zu fühlen, meine Lippen an seine zu schmiegen und seinen unvergleichlichen Duft einzuatmen. Göttin sei Dank hatte ich noch genug Selbstbeherrschung, keiner dieser Dummheiten nachzugeben und mir einen Rest Würde zu bewahren, anstatt mich anzubiedern wie ein williges Flittchen.
»Rede mit mir«, flüsterte Hunter an mein Ohr und senkte den Kopf, sodass seine Stirn meine berührte und ich die Wärme in mich aufnehmen konnte, die er ausstrahlte.
»Was hattest du mit Jaimies Entführung zu schaffen?«, fragte ich schroff und lehnte mich gegen die Bücher, um den letzten Rest meiner Rückzugsmöglichkeit auszukosten und so viel Abstand zwischen uns zu bringen wie möglich.
»Nicht darüber«, erwiderte er mit rauer Stimme und musterte mich eingehend, als würde er meine Gefühlslage abschätzen. Ob er damit rechnete, dass ich einen Nervenzusammenbruch bekam? Oder wollte er nur nicht den Moment verpassen, indem ich ausrastete und ihm das Gesicht wegbrannte?
»Ich wüsste nicht, worüber wir reden sollten, wenn du nicht über Jaimie sprechen möchtest. Dann habe ich dir nämlich nichts zu sagen«, zischte ich, aber ich klang längst nicht so bissig wie beabsichtigt. Eher spiegelte mein Ton meine Empfindungen wider. Müde. Kraftlos. Gebrochen. Verletzt.
»Doch, das weißt du und du weißt auch, dass ich dir nichts tun könnte. Das habe ich bewiesen, als ich lieber selbst gestorben wäre, als dir ein Leid zuzufügen. Und ich weiß, dass du das, was du gerade fühlst, bei niemandem anderen je fühlen wirst. Du gehörst zu mir.« Damit war wohl geklärt, ob er die Erinnerungen auch sehen konnte. Waren es die gleichen oder sah er uns in anderen Jahrhunderten?
Ja. »Nein. Vielleicht war das Schicksal der Meinung, dass wir zusammengehören, aber du hast alles zwischen uns zerstört, obwohl du mir alles bedeutet hast. Du bist ein Verräter und ich werde nicht zulassen, dass mich das umbringt, falls das einer von Rabianas perfiden Plänen gewesen sein sollte. Ich empfinde gar nichts mehr für dich. Überhaupt nichts.« Lüge. Ich war eine Lügnerin, Mel, sonst würde mein Herz nicht wie wild klopfen und in meinen Augen würden keine Tränen schwimmen, die deutlich machten, dass ich doch nicht so eiskalt war, wie ich gerne gewesen wäre.
»Schwachsinn! Du liebst mich. Gerade bist du verletzt, weil ich Scheiße gebaut habe, aber das Strahlen in deinen wunderschönen Augen jedes Mal, wenn wir uns ansehen, zeigt mir, dass du mich liebst. Sag mir, dass ich dich küssen darf. Lass mich dir beweisen, dass ich dich genauso sehr liebe wie du mich.«
Stark bleiben! Wie ein Mantra sagte ich es mir immer wieder, aber Hunter klang so traurig, fast verzweifelt und ich war erschöpft. Das ewige Kämpfen machte mich müde und laugte mich aus. Mein Herz stockte und ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wenn nicht bald etwas passierte. Mir wurde alles zu viel. Als wäre die Wahnsinnige, die mich jagte, nicht Strafe genug. Nein, da musste mir das Schicksal auch noch einen Strich durch die Rechnung machen und mir einen Lügner zur Seite stellen, bei dem ich es einfach nicht schaffte, ihn zu hassen. Ich konnte nicht verhindern, dass eine Träne sich aus meinem Augenwinkel löste und mir heiß die Wange hinunterlief, während seine Nase an meiner rieb. Er hatte recht. Aber was sollte ich tun? Ich konnte ihm nicht vergeben. Dafür war zu viel passiert. Nathalia, Rabiana und jetzt anscheinend diese Mary, die sich an ihn heranschmiss wie eine Schmeißfliege und er bemerkte es nicht einmal oder es kümmerte ihn nicht, obwohl ich ihr die Augen auskratzen wollte, wann immer sie ihn berührte.
»Nein.« Es war nur ein kleines Wort, doch es verlangte mir alles ab. Meine Zunge war verkrampft und meine Nase gekräuselt, meine Gesichtsmuskeln angespannt. Jede Faser meines Körpers hätte am liebsten lauthals »Ja« geschrien, aber ich schaffte es, mich dagegen zu wehren. Meine Stimme klang belegt, als würde sie meine Trauer transportieren, aber zumindest brach sie diesmal nicht mitten im Satz und zeigte meine Schwäche. Ich musste stark sein. Jetzt mehr denn je. Doch ich schaffte es einfach nicht. In meiner Brust war ein unbändiger Druck, den ich nicht loswurde. Ich wollte schreien, weinen, lachen und schweigen. Am besten alles auf einmal, aber es ging nicht. In dem Bruchteil einer Sekunde, wo Hunter schwieg und seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, brach ich zusammen, weil ich Angst hatte vor seiner Reaktion. Was war, wenn er ging? Wenn er sich jemand anderen suchte, den er küssen konnte? Jemand, der nicht auf seinen Fehlern herumritt. Jemanden wie Mary. Ich sank auf die Knie und hielt mir die Hände auf die Ohren. Ich wollte nicht hören, was er noch zu sagen hatte. Ich konnte nicht mehr. Rabiana hatte mich zerstört und Hunter hatte ihr dabei geholfen. Aber wie hieß es so schön? Selbst ein Knicklicht muss erst brechen, um zu leuchten. Und ich würde nun heller strahlen als irgendjemand sonst. Ich musste nur die Krone meiner Familie finden und aufhören, mich wie eine pubertierende Schülerin zu benehmen. In der Theorie klang das gut, oder Mel? Fast einfach.
Auch Du hattest gelogen, aber Dir hatte ich noch im gleichen Moment, in dem ich es erfahren hatte, vergeben. Warum fiel es mir dann bei meinem Gemahl so schwer? Vielleicht weil ich gehofft hatte, dass wir nach Nathalia nicht noch mehr durchmachen müssten oder alles leichter wird, wenn er nicht weiter unter dem Einfluss eines Tranks steht. Doch nun zu erfahren, dass er mich schon davor belogen hatte, war mehr, als ich gewillt war, zu verkraften. Tief atmete ich durch, bevor ich mich vom Boden abstieß, um wieder Auge in Auge Hunter gegenüberzustehen. Ich schluckte die Tränen hinunter und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein«, wiederholte ich und diesmal klang ich stark, als würde ich wirklich hinter meinen Worten stehen.
»Ich hasse es, wenn du weinst. Überhaupt, wenn ich der Verursacher dieser Tränen bin«, flüsterte er mehr zu sich selbst und tat, als hätte ich nichts gesagt. Verwirrt sah ich ihn an, bis mir auffiel, dass mir immer noch Tränenflüssigkeit über die geröteten Wangen lief. Verdammt! Konnte mein Körper einmal tun, was ich von ihm wollte? Der Schwarzhaarige griff nach meinen Fingern und führte sie an seinen Mund, während er mit der anderen Hand mein Gesicht entlang wischte, um es von den Tränenspuren zu befreien. Sacht küsste er meine Fingerknöchel und ich schloss die Augen, um wenigstens nicht dabei zusehen zu müssen. In seinem Blick lagen so viele unausgesprochene Versprechen und ich konnte es einfach nicht ertragen, die Liebe zu sehen, die sich in seinen Iriden spiegelte. Sie schienen so vieles sagen zu wollen.
»Jaimie?«, fragte ich hart und versuchte, meine Trauer in Wut umzuwandeln. Damit konnte ich besser umgehen. »Hast du ihn gefoltert? Hast du ihn persönlich zu Rabiana gebracht oder hast du