wenn jemand gesehen hat, wie ich unten in das Tor eingebrochen bin?«
Professor Weissinger blieb stehen und sah Mara an. Dann grinste er. »Dann, Mara, wird der Jemand sich hüten, dir zu nahe zu kommen.«
Mara nickte. Das traf im Moment sogar aus mehreren Gründen zu, denn sie sahen beide aus, als würden sie zum Himmel stinken. Was vielleicht sogar ebenfalls zutraf …
Keiner trug noch ein sauberes Kleidungsstück. Die Jacke des Professors war zudem an mehreren Stellen aufgescheuert, und der linke Ärmel war nur noch rudimentär an der Schulter befestigt. Beide hatten ein Loch im rechten Hosenbein auf Höhe des Knies und diverse kleine und größere Löcher in allen anderen Kleidungsstücken außer vielleicht den Socken. Dafür waren die aber wohl für den Geruch verantwortlich. Wahrscheinlich hatte bisher deshalb kein Auto angehalten, obwohl sie jedes Mal den Daumen ausgestreckt hatten. Vermutlich war von ihrem Gestank die Windschutzscheibe beschlagen, und man hatte sie übersehen.
Mara verdrehte die Augen. Witze brachten sie jetzt doch nicht weiter! Sie sah sich um. Alles kam ihr so seltsam unwirklich vor. Noch vor ein paar Stunden hatten sie zusammen im Kopf des Hermannsdenkmals auf dem Teutberg gestanden und gegen untote römische Legionäre gekämpft. Der Feuerbringer selbst hatte sie dann in Form eines hochhausgroßen Zenturios angegriffen.
Gut, sie hatten ihn mithilfe des Denkmals selbst und einer Million Liter Wasser empfindlich zurückgeschlagen, aber dafür hatte der Kampf einen Bannkreis der Verwüstung in die Gegend um Detmold gestempelt. Sogar hier, mehrere Kilometer vom Teutberg entfernt waren die Spuren des Kampfes noch deutlich sichtbar.
Seit einer knappen Stunde marschierten Mara und Professor Weissinger nun schon am Rand der Landstraße zurück Richtung Kalkriese. Und alles, was auch nur entfernt mit Wasser zu tun hatte, war … na ja … kaputt. Egal ob Brunnen, Rohre, Hydranten oder Kühlschränke in einer Tankstelle – all diese Dinge waren nun nicht mehr zu retten oder mindestens dringend reparaturbedürftig.
»Du liebe Zeit«, brummte der Professor, als sie gerade eine weitere geplatzte Leitung passierten.
Grotesk verdrehte Rohre ragten aus dem Boden rund um einen einsam stehenden Bauernhof.
Mara hatte sofort wieder ein seltsames Bild im Kopf: Es sah aus, als hätte das Gebäude seine dünnen Spinnenbeine aus dem Boden gezogen, um darauf wegzulaufen, wäre dann aber aufgrund des Gewichts wieder eingeknickt.
Aus ein paar Rohren tröpfelte es nur, aber eine dicke geborstene Leitung mitten in einem Kräutergarten hatte die aufwändig angelegten Beete in eine Schlammwüste verwandelt. Gartenzwerge lagen im Morast wie die Opfer einer Sturmflut, und ihr maskenhaftes Grinsen wirkte so noch psychopathischer.
Mara hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Allerdings nicht so sehr wegen der Gartenzwerge. Die waren ihr schon als kleines Kind ebenso suspekt gewesen wie Zirkusclowns.
Stimmt, dachte sie, es könnte viel schlimmer sein, wenn der Feuerbringer zum Beispiel ein angemalter Clown wäre.
Ein tiefer Seufzer des Professors weckte sie aus ihrem skurrilen Tagtraum. Als er darauf noch ein weiteres Mal seufzte, wusste Mara ziemlich genau, warum. Die Seufzer galten dem Auto seiner Exfrau Stefanie, mit dem sie vom Museum aus vor den untoten Soldaten geflüchtet waren. Genauer gesagt, dem Gedanken, wie er das Steffi beibringen sollte.
»Tut mir leid, dass ich ein Loch ins Dach gemacht habe«, murmelte Mara. »Und dass dann was draufgefallen ist.«
Der Professor stierte nur stumm geradeaus. Okay. Sie versuchte es noch einmal: »Aber es war doch eine gute Idee, das Auto zu tarnen, oder?«
»Ja, Mara. Das war eine tolle Idee, verblüffend in ihrer Einfachheit. Allein der Teufel steckte hier wahrlich im Detail der Durchführung.«
Mara runzelte die Stirn. »Also ehrlich jetzt, ich kann doch nix dafür, dass da ein Berg ist und dass man das von oben nicht so direkt sehen konnte! Ich wusste doch auch nicht, dass es da gleich neben dem Weg steil bergab geht!«
»Nun ja, ich sag mal: Jetzt wissen wir es beide, was?«, antwortete der Professor. »Und das Auto weiß es nun auch.«
Bevor Mara noch etwas zu ihrer Verteidigung anbringen konnte, hob der Professor den Zeigefinger. »Ich habe einen Traum. Darf ich ihn dir erzählen?«
Mara nickte. Was kam denn jetzt?
Professor Weissinger blieb stehen und breitete die Arme aus. »Ich habe einen Traum«, rief er theatralisch. »In diesem Traum bist du gerade im Begriff, etwas zu tun, das ich für eine unfassbar schlechte Idee halte. Darum rufe ich so etwas Ähnliches wie Stopp! Halt! oder Hör um Gottes willen auf zu schieben! Und jetzt kommt das Schönste an diesem Traum: Du! Hörst! Auf! Mich!« Er wartete, bis auch das letzte »Mich« im nahen Waldrand verklungen war, drehte sich dann einfach um und ging weiter.
»Okay, hab’s kapiert«, brummelte Mara so leise, dass es kaum zu hören war. Aber es genügte, um beim Professor einen weiteren Seufzer auszulösen.
Sie holte zu ihm auf, und eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Mara lenkte ihre Gedanken von der wahnsinnigen Nacht hinter ihnen auf den Irrsinn, der vor ihnen lag.
Sie mussten jetzt erst mal zurück zu dem Museum in Kalkriese und ihre Koffer holen. Dann weiter nach Osnabrück und mit der nächsten Zugverbindung ab nach Hause. Nach München!
Denn dort würde dieser schmierige Dr. Thurisaz seine nächsten Seminare abhalten und dabei all den leichtgläubigen Esoterikfans den Vers des Feuerbringers in die weichen Birnen pflanzen. Sie wussten nun ganz sicher: Der Vers war dafür verantwortlich, dass der Feuerbringer namens Loge an Kraft gewann.
Außerdem hatte Mara Angst um ihre Mutter. Diese war in ihrer Begeisterung über das angebliche Rückführungsseminar des Gurus wild entschlossen, weitere Veranstaltungen von ihm zu besuchen!
»Wenn immer mehr Menschen den Vers vom Feuerbringer aufsagen«, fing Mara an.
»… wird er sich irgendwann nicht mehr darauf beschränken, dich zu piesacken«, beendete der Professor den Satz.
Mara runzelte die Stirn. Das machte irgendwie keinen Sinn. »Und das wäre dann die Götterdämmerung? Will der Loge das … das Ende der Welt? Warum denn?«
Der Professor schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Meine Vermutung ist aber, dass der Kampf, der dann mit diesem mächtigen Feuerwesen ausgetragen würde, einem Ende der Welt ziemlich nahe käme.«
Mara schwieg, denn das machte Sinn. Schön, wenn zur Abwechslung mal etwas Sinn machte. Schade, dass es ausgerechnet das war.
Zu Hause warteten also ein paar große Aufgaben. Und eine ganz besondere Aufgabe lag direkt vor ihnen.
»Ähm … haben Sie schon eine Idee, wie Sie Ihrer Exfrau das mit dem Auto erklären?«, fragte Mara.
»Ich weiß ziemlich genau, was ich tun werde, aber ich fühle mich dabei sehr unwohl«, antwortete der Professor zerknirscht. »Ich hasse es, zu lügen.«
»Ehrlich?«, entfuhr es Mara schneller, als sie sich selbst bremsen konnte. Denn sie hatte den Professor nun schon ein paar Mal so was von dermaßen brillant lügen gesehen, dass sich zufällig anwesende Balken nicht nur gebogen, sondern freiwillig in Brezelform gekringelt hätten. Natürlich war das immer im Dienste ihrer großen Aufgabe passiert oder weil er Mara schützen wollte. Trotzdem gefiel ihr dieses Talent so gar nicht. Schließlich bahnte sich da was zwischen Professor Weissinger und ihrer Mutter an, und Mama sollte auf keinen Fall mit einem talentierten Lügner zusammenkommen! Immerhin hatte er jetzt zum ersten Mal gesagt, dass er es nicht gerne tat. Oder hatte er da jetzt auch gelogen? Er hatte dabei allerdings sehr ehrlich ausgesehen. Aber genau das war ja das Problem!
Warum, verdammt noch mal, denke ich immer so viel über alles nach?, dachte Mara. Und warum denke ich jetzt auch noch drüber nach, dass ich immer über alles so viel nachdenke!?
Mara runzelte kurz die Stirn, als sie versuchte, darüber nachzudenken, dass sie gerade darüber nachdachte, wie sie darüber nachdachte, dass sie zu viel nachdachte.