gut“, zeigte Rafael sich einverstanden und überlegte gar nicht lange, denn er hatte es satt, immer der vernachlässigte Rafael zu sein. Der seltsame Junge reichte ihm nun den Ring und Rafael steckte ihn an seinen Finger. Im selben Augenblick drehte sich alles um Rafael herum wie ein großes Rad, sodass Rafael bald gar nichts mehr erkennen konnte als nur ein buntes Bild, in dem sich viele Farben und Formen mischten. Er hörte das geheimnisvolle Rauschen des Baches, in dem er damals den Ring seines Vaters verloren hatte und an dem er oft mit Til gespielt hatte – und im nächsten Moment fand er sich im Bett seines Bruders wieder. Til aber war verschwunden.
Es war heller Morgen, Rafael stand auf. Er fühlte sich größer und auch etwas kräftiger als sonst und als er in den Spiegel blickte, der am Schrank hing, erkannte er darin nicht sich selbst, sondern tatsächlich seinen Bruder Til. Und er hätte nun am liebsten laut gejubelt, als seine Mutter plötzlich ins Zimmer kam und ihn in die Arme nahm.
„Rafael ist nicht wiedergekommen“, schluchzte sie. Sie löste sich wieder aus der Umarmung und blickte Rafael an, den sie nun für Til hielt. In ihren Augen standen Tränen: „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen! Ich bin ganz früh aufgestanden, um Rafael in der Stadt zu suchen, aber ich habe ihn nirgends gefunden! Ich habe solche Angst, Til!“
Rafael wollte etwas sagen, aber in diesem Moment läutete das Telefon im Flur und seine Mutter eilte sofort hin. Rafael bemerkte, dass es die Polizei war – seine Mama hatte sie also bereits verständigt. Da schauderte es ihn, aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn als er im Badezimmer war, stand seine Mutter schon wieder vor ihm und sagte: „Til, du bist doch heute für den Leichtathletik-Wettkampf der Jungs von der Schule freigestellt.“ Sie hatte ihm die Sachen für den Wettkampf schon zusammengepackt und reichte ihm nun Tils Rucksack. Dabei senkte sie ihren Blick und fragte wieder: „Wo ist Rafael nur?“
Einerseits tat Rafael seine Mutter ja leid, aber andererseits freute er sich auch, dass sie nun endlich eingesehen hatte, dass nicht nur Til wichtig war. Nur eines ging Rafael nicht aus dem Kopf: Während sich seine Mutter fragte, wo Rafael war, fragte er sich, wo eigentlich der richtige Til geblieben war.
„Wo ist Rafael nur?“, fragte sich die Mutter jetzt wieder und verließ das Haus, ohne etwas Weiteres zu sagen. In diesem Moment dachte Rafael darüber nach, ob er nicht wieder zu dem Jungen in den Wald gehen sollte, um alles rückgängig zu machen, denn nun tat ihm seine Mutter doch leid.
Aber erst einmal musste Rafael auf seinem Fahrrad zum Sportplatz fahren. Er war sehr aufgeregt, weil er ja noch nie an so einem Sportwettkampf teilgenommen und immer nur von der Tribüne aus seinem Bruder zugesehen hatte.
Kapitel 2
Als Til gewann Rafael überragend in drei Kategorien: Kugelstoßen, 100-Meter-Lauf und 1000-Meter-Lauf – er wurde insgesamt Bester des Jahrgangs und erhielt dafür eine große Goldmedaille. Er fühlte sich großartig, als ihn alle umjubelten und lobten, aber dann störte es ihn doch, dass alle ihn Til nannten und dass seine Mutter nicht auf der Tribüne saß, um zuzusehen. Eigentlich hatte sie sich für diesen Tag extra freigenommen, um Tils Wettkampf mitzuerleben – und nun suchte sie irgendwo in der Stadt nach Rafael, der ja eigentlich gar nicht verschwunden war.
Mittagessen durfte Rafael bei einem Freund von Til, der diesen zu sich eingeladen hatte, aber er redete die ganze Zeit über Fußball, was Rafael nervte. Am Nachmittag spielte Rafael mit Tils Freunden Fußball, aber diese Jungen waren ganz anders als seine eigenen Freunde und er fühlte sich unter ihnen gar nicht wohl. Nach dem Spiel gab ihm ein Mädchen aus Tils Klasse einen Kuss auf den Mund – das war großartig und Rafael lief ganz atemlos nach Hause.
Als er endlich heimkam, war es schon Abend. Eigentlich wollte er noch etwas zeichnen, denn er hatte als Rafael gerne Häuser und Landschaften gezeichnet, aber plötzlich fehlte ihm jede Lust dazu. Was soll’s?, dachte er, Mama hat sich ja sowieso nie für meine Zeichnungen interessiert. Er suchte seine Mutter, um ihr die Goldmedaille zu zeigen und da fand er sie in der Küche, wo sie seine Zeichnungen ansah und weinte. Da musste Rafael schlucken, um nicht selbst zu weinen; er ging aufs Zimmer und legte sich in Tils Bett. Aber er schlief lange nicht ein, sondern wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Immer wieder fragte er sich, wo Til war, und er war nun doch sehr traurig darüber, dass seine Mutter ihn so sehr vermisste.
Am nächsten Morgen rührte Rafaels Mutter nur schweigend in ihrem Kaffee und starrte aus dem Fenster. Rafael erzählte ihr als Til von der gewonnenen Goldmedaille, aber sie hörte ihm gar nicht richtig zu.
In der Schule fragten Rafaels Freunde: „Ist Rafael wiedergekommen, Til?“ Sogar die Lehrerin der Klasse, in die Til ging, fragte ihn: „Hast du etwas von Rafael gehört?“ So konnte sich Rafael überhaupt nicht auf den Unterricht konzentrieren und außerdem gefiel es ihm in Tils Klasse nicht, weil ihm seine besten Schulfreunde fehlten, mit denen er im Sommer oft Räuber und Bulle gespielt oder über Abenteuerbücher und seine vielen Zeichnungen dazu gesprochen hatte.
Nach der letzten Schulstunde rief ihn der Mathelehrer zu sich und hielt ihm eine Schularbeit hin mit den Worten: „Til, das hat doch nicht deine Mutter unterschrieben!“ Rafael blickte genauer hin: Til hatte eine fünf bekommen – eine fünf! Ausgerechnet Til! Wie ist das möglich?, überlegte Rafael. Til war doch immer der beste Schüler seiner Klasse gewesen! Und noch dazu hatte er die Unterschrift von Mama gefälscht, damit sie nichts davon erfährt. „Das lässt du sofort von deiner Mutter unterschreiben!“, sagte der Lehrer zornig und sah ihn streng an. Rafael schaute sich die Schularbeit an. Die Rechnungen darauf waren nicht so schwierig, fand Rafael. Wie konnte Til so etwas nur vermasseln?, fragte er sich.
Als Rafael mit dem Fahrrad auf dem Heimweg war, musste er von der Schule aus den Weg am Bach entlangfahren, bis dieser bei der Holzbrücke, an der sein Vater verunglückt war, in die Straße mündete. Dieser Straße musste er dann bis zu seinem Haus noch weiter stadtauswärts folgen.
Auf dem Weg am Bach zielte aber plötzlich Kenzo, ein Klassenkamerad von Til, mit einem harten Fußball auf ihn und traf seinen Bauch. Rafael fiel vom Fahrrad und landete im Bach – der Ball wurde von der hier etwas stärkeren Strömung des Bachs mitgerissen. „Hallo, Til!“, rief Kenzo und sah Rafael böse an. „Du Wunderkind!“, sagte er in verächtlichem Tonfall und stellte sich nun ganz gerade und mit herausgestreckter Brust vor ihm auf. Er war der größte Schüler in Tils Klasse, schon vierzehn Jahre alt, trug einen strengen Bürstenhaarschnitt und hatte ganz blaue Augen, die er nun zu Schlitzen verkleinerte. Rafael hatte ihn nie gemocht: Kenzo spielte nämlich ungern mit den anderen aus der Fußballmannschaft zusammen, weil er sich immer für besser hielt. Til hatte trotzdem immer versucht, mit ihm Freundschaft zu schließen – aber umsonst. Kenzo ertrug es erst recht nicht, wenn ein Stürmer wie Til mehr Tore schoss als er selbst. Er wollte unbedingt immer selbst der Beste im Fußball sein.
„Ich habe gesehen, wie du meine Freundin geküsst hast!“, rief Kenzo und dann lachte er plötzlich schallend laut, als er den vermeintlichen Til ansah, der ganz durchnässt und schmutzig aus dem Bach stieg. Im nächsten Moment wurde Kenzo aber wieder ernst und blickte Rafael mit seinen gemeinen blauen Augen scharf an. „Wenn du sie noch einmal küsst, wirst du dein blaues Wunder erleben! Kapiert?“
Kenzo war sicher, dass der sonst so brave Til jetzt eingeschüchtert war, denn immerhin hatte er ihm auch ein hübsches kleines Bad verpasst. Also wandte er sich ab und wollte schon gehen – aber mit einem Mal stürzte sich Rafael auf Kenzo und brüllte dabei: „Du lässt meinen Bruder in Ruhe!“ Damit hatte der starke Kenzo gar nicht gerechnet und fiel nun tatsächlich ins Gras. Rafael formte mit seiner Hand eine Faust, um sie in Kenzos Gesicht zu schlagen, und Kenzo, der nun auf dem Boden lag, sah Rafael mit offenem Mund ganz erstaunt an.
Dann überlegte Rafael aber und hielt inne: Er erinnerte sich an eine frühere Rauferei mit Til: Damals war er selbst neun gewesen und Til zehn. Rafael hatte seinen Bruder mit einem Stein heftig am Kopf verletzt und das hatte ihm so leid getan, dass er geschworen hatte, sich nie wieder zu prügeln.
Also ließ er von Kenzo ab, der ihn nun aber sofort packte. Mit beiden Armen hielt er Rafael am Kragen fest und drückte ihn mit dem