die Königin von Verlorenherz dazu bestimmt hatte. Dadurch zerreißt die böse Königin bis heute ganze Familien! Aber niemand kann die Macht der Königin so einfach brechen, denn die Königin ist eine große Zauberin und als solche mächtig und gefürchtet. Und so müssen die Menschen in Verlorenherz wohl oder übel mit den Entscheidungen der bösen Königin leben und ebenso traurig sein wie sie selbst.
Die Geschichte von Narr Silberspiegel erinnerte Til an seinen Großvater, der seine Mama verlassen hatte – das hatte ihm seine Mama einmal erzählt: Sie war damals erst drei Jahre alt gewesen. Ihr Papa, Tils Großpapa, war immer gerne mit Kleinflugzeugen geflogen. An einem warmen Herbstabend stand die kleine Julia mit ihrer Mutter auf dem Flugplatz, um sich von ihrem Papa zu verabschieden. Die Bäume verloren ihre ersten Blätter und Tils Mutter erinnerte sich später noch ganz genau daran, wie sie sich zum letzten Mal von ihrem Papa verabschiedete. Er sagte zu ihr: „Wenn du größer bist, dann fliegst du mit und wir fliegen zusammen bis in die Wolken!“ Die kleine Julia wollte lieber gleich mit, aber ihre Mutter sagte: „Dafür bist du noch zu klein!“ Julia weinte und quengelte deshalb noch den ganzen Tag. Es war das letzte Mal gewesen, dass Julia ihren Papa gesehen hatte. Er kam nie wieder zurück, das Leichtflugzeug wurde lange gesucht, aber niemand konnte es finden. Man nahm an, es wäre irgendwo abgestürzt.
„Aber warum müssen denn alle Menschen in Verlorenherz mit den Entscheidungen der Königin leben?“, wollte Til wissen und fühlte sich wieder sehr traurig. „Da muss man doch irgendetwas dagegen tun können!“
Narr Silberspiegel überlegte scharf. Die Menschen um sie herum auf dem Bahnsteig wurden nun endlich weniger, aber es blieben immer noch einige zurück, die sehnsuchtsvoll und traurig um sich blickten und nicht glauben konnten, dass sie ihre Liebsten nun für immer verloren hatten. Til wurde auf einen Jungen aufmerksam, der seinen Vater verloren hatte. Nun saß er auf dem Bahnsteig und blickte stumm in die Richtung, in die der Zug verschwunden war. Und unweigerlich musste sich Til nun auch an seinen eigenen Vater erinnern:
Rafael und Til waren vier und fünf Jahre alt gewesen. Ihr Papa hatte sie zur Geburtstagsfeier eines Freundes von Rafael gefahren. Abends wollte er die beiden Jungen dann abholen, aber auf dem Weg zu ihnen geriet er in ein Gewitter. Durch den heftigen Regen, der sich wie ein weißer Vorhang auf seine Windschutzscheibe legte, war er mit dem Auto von der Straße abgekommen und in den Bach gestürzt. Til war bei der Beerdigung dabei gewesen, aber er erinnerte sich nur noch daran, wie traurig er gewesen war und dass er ständig sein Weinen unterdrückt hatte, weil seine Mama auch nicht geweint, sondern nur traurig ausgesehen hatte. Und er wusste noch, wie er dann eine Weile bei seiner Mama im Bett geschlafen hatte, die nachts oft geweint und ihn dabei umarmt hatte. Vielleicht hatte die Königin seinen Papa auch nach Verlustig geschickt? Dann musste Til ihn unbedingt zurückholen und vielleicht konnte er auch die anderen Menschen aus Verlorenherz wieder glücklich machen!
„Was ist denn das?“, fragte Til erstaunt, als er im Spiegel des Narren plötzlich tanzende bunte Buchstaben erkannte, die sich allmählich zu einem Satz zusammensetzten: Geh nach Verlustig! Nun blickte auch Til in die Richtung, in die der Zug nach Verlustig verschwunden war. Außerhalb des Bahnhofsgebäudes lag dort alles in einem weißen, dichten Nebel. Einen Augenblick lang überlegte Til, wie er überhaupt wieder zurück zu Mama und Rafael kommen konnte, aber dann dachte er wieder an seinen Papa und an die traurigen Menschen aus Verlorenherz und sagte entschlossen: „Gehen wir nach Verlustig und tun, was der Spiegel uns sagt, Narr Silberspiegel!“
Da lächelte Narr Silberspiegel. „Das ist recht: Tu, was der Spiegel dir sagt! Du hast hier eine Aufgabe zu erfüllen, Til. Meine Freundin Resi Redewendung, die du später noch kennen lernen wirst, hat mir den Zauberspiegel überlassen, um die bösen Mächte der Königin zu besiegen. Der Spiegel weist uns den Weg, und durch ihn kann uns die Königin nicht sehen, denn er macht uns vor ihrem eigenen schwarzen Zauberspiegel, mit dem sie sonst alles in ihrem Reich sehen kann, unsichtbar. Und im Laufe der Zeit wirst du auch erfahren, wie du wieder nach Hause kommst. Alles wird sich allmählich entwickeln!“
Til fand das alles sehr spannend. Abenteuerlustig, wie er nun plötzlich war, wollte er sofort nach Verlustig aufbrechen und fragte: „Narr Silberspiegel, wie gelangen wir nach Verlustig? Schaffen wir es ohne den Trauerzug?“
„Wir schaffen es mit Hilfe des Zauberspiegels!“, sagte Narr Silberspiegel.
„Was bedeutet denn das?“, fragte Til abermals erstaunt, als er im Spiegel des Narren nun wieder tanzende Buchstaben erkannte, die sich allmählich zu einem Satz zusammensetzten: Tanzt, denn nur lustig findet ihr nach Verlustig!
Da sprang Narr Silberspiegel auf, drehte sich einige Male im Kreis, tanzte lustig und ausgelassen auf dem Bahnsteig herum und rief voller Freude: „Ich habe meinen Sohn wieder!“, während ein paar traurige Menschen um ihn herum immer noch weinten. „Tanz mir nach, Til“, rief Narr Silberspiegel, „denn nur lustig kommst du nach Verlustig!“
„Was hast du denn mit deinem Sohn gemeint?“, fragte Til.
„Ich stelle mir vor, dass ich einen meiner verlorenen Söhne in Verlustig wiederfinde!“, sagte Narr Silberspiegel. „Und du musst dir beim Tanzen auch etwas ganz Schönes vorstellen, damit du lustig wirst, denn sonst kommen wir nicht nach Verlustig!“
Und obwohl Til sonst niemals tanzte, stand er nun auf und tanzte quer über den Bahnsteig. Er versuchte, Narr Silberspiegel in seinen schnellen Bewegungen, Schritten und Drehungen zu folgen. Er hätte diesen Tanz gar nicht beschreiben können: Sie tanzten so, wie sie sich eben fühlten, und Til fühlte sich großartig, denn er stellte sich vor, wie er ein Fußballspiel gegen das beste Team der Liga gewann und seine Mannschaft dabei zum vierten Mal in Folge die Meisterschaft für sich entschied; wie er selbst Torschützenkönig wurde und ihn alle bejubelten, wie es in den vergangenen Jahren schon geschehen war: Immer war es ein großartiges Gefühl gewesen. Aber da war noch ein viel größerer Wunsch in ihm, der ihn in Gedanken an seine Erfüllung unendlich glücklich machte.
Kapitel 7
Mama hat nichts bemerkt, dachte Rafael, wie auch? Der Junge aus dem Wald ist ja nun wieder Til. Mama hat einfach Frühstück gemacht wie jeden Morgen, hat sich mit Til über Fußball unterhalten wie jeden Morgen und ist dann in die Stadtbibliothek gefahren wie jeden Morgen.
Und nun ging Rafael mit Til zur Schule – wie jeden Morgen: Sie gingen nebeneinander die Straße in Richtung Stadtzentrum hinunter und Til erzählte Rafael, der aber in Gedanken war, viel über Fußball. Zur Schule gingen sie wie immer ihren eigenen Weg: Vor der hölzernen, ebenen Bachbrücke, über die man in die Stadt gelangte, bogen sie in einen kleinen Waldweg ein, der stromabwärts am Bach entlang führte. Der Weg führte schließlich weg vom Wald; es folgten Felder, Streuobstwiesen und Bauernhöfe, bis man über eine weitere Brücke des Bachs musste, die in die Stadt zurückführte und auch zur Schule. Obwohl dieser Weg viel länger war, als wenn sie durchs Stadtzentrum zur Schule getrabt wären, gingen Rafael und Til ihn immer sehr gern, denn so konnten sie noch länger miteinander reden, bis sie bei der Schule waren.
An der Holzbrücke, wo die Brüder immer den Waldweg betraten, war ihr Vater mit dem Auto von der Straße in den Bach gestürzt – daran musste Rafael immer denken. Rafael war erst vier Jahre alt gewesen und wusste nicht mehr genau, was damals alles geschehen war. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er nicht zur Beerdigung seines Vaters gegangen war, sondern den ganzen Tag im Bett verbracht und sich gewünscht hatte, sein Vater würde bald nach Hause kommen wie sonst auch immer.
Nun trabten Rafael und Til nebeneinander auf dem erdigen Waldweg am Bach entlang, der hier breiter und tiefer war als an den anderen Stellen.
„Aber du bist gar nicht Til, richtig?“, fragte Rafael plötzlich, nachdem er eine Weile still gewesen war und Til einfach nur zugehört hatte. Obwohl dieser Junge sich genau so verhielt wie Til, hatte Rafael nun mit einem Mal nicht mehr das Gefühl, dass es sich wirklich um seinen Bruder handelte.
Der Junge sah Rafael an und fragte: „Willst du mich veräppeln, Rafael?“
Da sagte Rafael: „Til nennt mich doch immer Raffi! Warum nennst du