geschlafen hast!“
Plötzlich bekam der Junge ganz dunkle Augen und auch sein Haar wurde immer dunkler. Wütend zog er die Augenbrauen zusammen, die nun finstere Schatten auf seine Augen warfen.
Rafael wurde nun erst recht wütend und brüllte den sonderbaren Jungen an: „Ich will sofort wissen, wo mein Bruder ist!“
In diesem Moment packte der Junge Rafael und drückte ihn ganz fest gegen den Stamm einer Eiche. Rafael konnte sich nicht befreien. Er fühlte sich schwach und dem Jungen hilflos ausgeliefert, er konnte seine Glieder gar nicht mehr bewegen – da bemerkte er mit einem Mal, dass der Junge ihm eine sonderbare Herzmuschel an sein Ohr hielt, die so schwarz war wie das schwarze Haar und die schwarzen Augen des Jungen aus dem Wald. Rafael konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren und er konnte auch an nichts mehr denken!
Der Junge verkleinerte seine dunklen Augen zu Schlitzen, kam ganz nahe an Rafael heran und flüsterte mit tiefer und wütender Stimme: „Du hast es dir so gewünscht! Du wolltest so sein wie dein Bruder! Jetzt gibt es nichts mehr, das du tun kannst, um den Zauber rückgängig zu machen – versuch es besser gar nicht!“
Rafael biss die Zähne zusammen, denn der Griff des Jungen um seine Schultern wurde immer stärker. Das tat Rafael weh und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien.
Der Junge aus dem Wald grinste und sein Gesicht war halb bedeckt von einem tiefen Schatten, der sich über Stirn und Augen legte. „Du hast mich in dein Leben eingelassen, Rafael – in dem Augenblick, als du mir erlaubt hast, in deine Welt einzugreifen – in diesem Augenblick hast du mir die Tür zu deiner Welt geöffnet! Sei froh, dass ich Til bin, dass ich noch Til bin, denn bald werde ich es nicht mehr sein und dann wird deine Mutter Til vergessen haben – ja, sogar du wirst Til vergessen haben! Und dann werde ich dein Bruder sein!“
Rafael schrie, denn der starke Griff des Jungen tat ihm jetzt sehr weh. Im nächsten Moment nahm der Schmerz sogar noch ruckartig zu. Er schrie noch lauter und durch die Muschel an seinem Ohr hörte er ein lautes, unerträgliches Rauschen, das ihn endlich ohnmächtig werden ließ …
Als Rafael wieder zu sich kam, lag er unter der Eiche am Bach. Er spürte keinen Schmerz mehr an seinen Schultern, als er aufwachte. Vor ihm kniete sein Bruder Til im Gras. Seine blaugrünen Augen blickten freundlich.
„Wir müssen nach Hause!“, sagte Til.
Rafael erinnerte sich an den schwarzhaarigen Jungen, der ihn gegen den Baum gedrückt hatte, bevor er ohnmächtig geworden war. „Wo ist der böse Junge?“, fragte er.
„Welcher Junge?“
„Bin ich ohnmächtig geworden? Du bist der Junge, richtig? Du bringst mir sofort meinen Bruder wieder!“
Til stand auf und begann, herzhaft zu lachen: „Du hast geträumt, Rafael!“
„Wie sollte ich geträumt haben? Hältst du mich für doof? Glaubst du, ich liege aus Spaß hier im Gras und bin nicht zur Schule gegangen? Es ist ja schon Mittagszeit!“ Rafael richtete sich auf und stand nun vor seinem Bruder Til am Bach.
Der schüttelte den Kopf und erzählte: „Du Dummerchen! Wir sind am Bach entlanggegangen und waren auf dem Schulweg. Da kam mir die Idee, die Schule zu schwänzen, weil heute eine schwierige Mathearbeit ansteht. Du wolltest auch nicht zur Schule. Also haben wir mit meinem Fußball gespielt, dann haben wir uns ins Gras gesetzt und du hast angefangen, in einem deiner dicken Abenteuerbücher zu lesen. Dann bist du eingeschlafen. Den Rest musst du wohl geträumt haben, Raffi!“
„Ich habe alles nur geträumt?“, fragte Rafael und konnte es selbst kaum glauben. Warum erinnerte er sich plötzlich nicht mehr daran, wie sie gemeinsam beschlossen hatten, die Schule zu schwänzen? Außerdem passte Schuleschwänzen gar nicht zu Til. Seit heute Morgen hatte Rafael nur noch an den Jungen aus dem Wald gedacht. Hatten ihn dieser Junge und dieser Albtraum, wenn es überhaupt einer gewesen war, so sehr mitgenommen, dass er darüber vergessen hatte, mit seinem Bruder die Schule geschwänzt zu haben?
„Ich gehe jetzt nach Hause“, sagte Til, packte seine Schultasche, die im Gras lag und lief los. „Du kannst ja nachkommen!“, rief er noch, während er hinter einigen Bäumen verschwand.
Aber Rafael lief ihm nicht nach. Er dachte: Selbst wenn ich geträumt habe, dann hat mein Traum doch erst am Morgen unter der Eiche begonnen, aber vorher ist etwas passiert, das mich glauben ließ, dass der Junge, der mit mir zur Schule ging, gar nicht Til ist. Was ist geschehen?
Rafael stellte fest, dass er plötzlich ganz vergessen hatte, was vor dem heutigen Morgen geschehen war. Er hatte vergessen, wie der Junge aus dem Wald ihm erschienen war und er hatte mit einem Male den Rollentausch mit seinem Bruder vergessen, Tils Verschwinden – einfach alles! Er erinnerte sich jetzt nur noch an den Kampf gegen den unheimlichen Jungen an der Eiche und daran, dass er aus irgendeinem Grund glaubte, dass sein Bruder nicht sein Bruder war …
Kapitel 8
Til dachte an ganz viele schöne Dinge und tanzte und tanzte, bis er mit seinem Freund Narr Silberspiegel plötzlich von dichtem Nebel umhüllt war. In diesem Augenblick fühlte er sich mit einem Mal sehr traurig und er konnte sich gar nicht erklären, warum.
„Sind wir jetzt etwa in Verlustig?“, fragte er seinen Freund, den Narren. „Warum ist hier alles so neblig? Ich sehe nichts! Gibt es keinen Ausweg aus diesem Nebel?“
Narr Silberspiegel schüttelte den Kopf. „Einen Ausweg gibt es nicht – das ist das Schwierige am Land Verlustig. Hier im Nebel musst du nach den Menschen suchen, die wegen der Königin verschwunden sind. Die Königin hat Verlustig nach dem Verlust ihres Mannes, des Königs von Weichlieb, gegründet. Hierhin sind alle Menschen verschwunden, die die Königin mit dem Zug nach Verlustig geschickt hat.“
„Und wie lässt sich der Nebel auflösen?“, fragte Til, als er plötzlich spürte, dass er in ein Loch trat. Er stolperte und f* el!
„Was war das?“, fragte er.
„Oh ne*n!“, r*ef N*rr S*lbersp*egel. „Du b*st *n e*n Buchstabenloch getreten!“
„Was he*ßt das?“, wollte T*l w*ssen und stellte plötzl*ch fest, dass *n *hrem Gespräch nun e*n Buchstabe fehlte.
„Du musst besser aufpassen!“, mahnte Narr S*lbersp*egel. „Es g*bt *n Verlust*g Buchstabenlöcher – das wollte *ch d*r gerade sagen! Wenn man da h*ne*ntr*tt, verl*ert man *mmer mehr Buchstaben be*m Sprechen und Erzählen, b*s man gar n*cht mehr sprechen kann. Du w*rst h*er n*emanden f*nden, der noch sprechen kann, we*l v*ele Menschen *hre Sprache verloren haben und man d*e Buchstabenlöcher gar n*cht sehen kann – pass also auf, wo du h*ntr*ttst! We*l d*e Menschen *n Verlust*g n*cht mehr sprechen können, werden s*e noch v*el traur*ger und dann können s*e erst recht ke*nen Plan entw*ckeln, um aus Verlust*g herauszukommen! S*e werden *mmer dümmer und e*nfallsloser!“
„Dann müssen w*r gut aufpassen!“, sagte T*l und bl*ckte auf den Boden, aber er konnte gar n*chts sehen, nur undurchdr*ngl*chen Nebel. Also g*ngen s*e be*de, T*l und N*rr S*lbersp*egel, ganz vors*cht*g durch den Nebel – Schr*tt für Schr*tt tasteten s*e s*ch nach vorn.
Sogar *ch, der Erzähler d* eses Romans, habe nun e*nen Buchstaben wen*ger zum Erzählen!
Der Nebel hörte n*cht auf, d*e S* cht zu trüben, und T*l und N*rr S*lbersp*egel fanden ke*nen e* nz*gen Menschen h* er.
„W*e können w*r d*e Menschen retten, d*e schon sprachlos s*nd?“, wollte T*l w*ssen.
„Zuerst müssen w*r s*e f*nden und dann müssen w*r *hnen das Alphabet w* eder be*br*ngen.“
„Ob w*r *n dem Nebel überhaupt jemanden f*nden?“, fragte s*ch T*l. *m nächsten Augenbl*ck stolperte er aber schon w*eder! „Verd*mmt!“, r*ef er. „Zum Teufel! W*r sollten stehen ble*ben. Schon w*eder b*n *ch *n e*n Buchst*benloch gef*llen!“
Nun fehlte *hnen e*n we*terer w*cht*ger Buchst*be und T*l und N*rr S*lbersp*egel mussten s* ch noch besser zuhören, um s* ch verstehen