gilt im Ergebnis für die Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten in das Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG) im Jahre 1998.[252] Hintergrund für diese Grundgesetzänderung bildete die nach dem Ende des Kalten Krieges verstärkt registrierte „Organisierte Kriminalität“, der man mit den herkömmlichen polizeilichen Ermittlungsmethoden nicht mehr effektiv genug begegnen zu können glaubte. Nach üblichem, wenn auch problematischem Sprachgebrauch bietet namentlich Art. 13 Abs. 3 GG n.F. die Grundlage für den „Großen Lauschangriff“[253] zu Zwecken der Strafverfolgung. Die besondere Schwere des Eingriffs resultiert dabei aus der Kombination des Eindringens in die private Wohnungssphäre mit der Heimlichkeit dieses Vorgehens. Eben deswegen wurde teilweise die Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG bezweifelt und angenommen, die akustische Wohnraumüberwachung verletze einen „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ und damit letztlich die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde.[254] Diese Argumentation verkannte freilich die Möglichkeit einer verfassungskonformen restriktiven Auslegung der neuen Bestimmungen auf Grundgesetzebene sowie ihrer konkreten Handhabung auf der Anwendungsebene.[255] Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Neuregelung zutreffend nicht als Verstoß gegen die Ewigkeitsgarantie gewertet, unter Rückgriff auf die problematische Vorstellung eines Kerngehalts der Grundrechte allerdings die Auslegung der Ermächtigungen und ihrer Anwendung in einer Weise angemahnt, die eine Verletzung des „unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ ausschließe.[256]
g) Stilbruch als Sachproblem
70
Es fällt auf, dass einige der in den letzten anderthalb Jahrzehnten eingefügten Grundgesetz-Änderungen sehr umfangreich und außerordentlich detailliert geraten sind: der bloße Anblick von Art. 13, 16a, 23, 87e, 87f, 143a, 143b GG lässt das unmittelbar deutlich werden. Das ist schon aus stilistisch-ästhetischen Gründen unerfreulich, weil der Gesamteindruck des auf möglichst prägnante Aussagen hin angelegten Grundgesetzes leidet; ein Mangel an Verständlichkeit tritt hinzu.[257] Noch schwerer wiegt freilich, dass aus der Machtlogik parteipolitischer Kompromisse heraus Detailregelungen auf die Ebene des Verfassungsrechts hochgezont wurden und nunmehr kaum mehr zu ändern sind, obwohl hier ein flexibles Handeln des Gesetz- und Verordnunggebers geboten wäre. Diese Verwischung der Differenz zwischen der Verfassung und unteren Normebenen und die Vorwegnahme konkretisierender Gesetzgebungs- und Verordnungstätigkeit führt dazu, dass nun ein Politikwechsel ohne vorgängige Verfassungsänderung kaum mehr möglich erscheint.[258] Damit wird der Sinn der Verfassung als einer Grundordnung verfehlt. So zeigt sich, dass der in den genannten Normen zutage tretende Stilbruch gravierende Sachprobleme nach sich zieht.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute › 3. Zentrale Konfliktfelder
3. Zentrale Konfliktfelder
71
Der Blick zurück auf die großen Etappen der Verfassungsentwicklung erweist, dass dem Grundgesetz bislang eine existenzbedrohende Krise erspart geblieben ist. Bürgerkriegsähnliche Szenarien, Putschversuche oder Staatsstreichdrohungen, wie sie die Weimarer Republik durchzogen, sind ebenso wenig zu verzeichnen wie als Verfassungsänderungen getarnte Neugründungen nach Art der V. Republik in Frankreich 1958 (dazu Jouanjan, § 2 Rn. 17ff.). Die Konflikte wurden im Rahmen der Verfassung und der dort vorgesehenen Wege ausgetragen, nicht extrakonstitutionell.
72
Aber natürlich gab es einige nicht nur zwischen den politischen Parteien heftig umstrittene, sondern das ganze Land aufwühlende Themen. An solchen zentralen Konfliktfeldern ragen Wehr- und Notstandsverfassung heraus; einige Grundrechtsänderungen treten im Vergleich deutlich zurück.
a) Wehrverfassung
73
Die ab 1950 forcierten Überlegungen zur Wiederbewaffnung Deutschlands verdankten sich nicht zuletzt der prekären weltpolitischen Lage nach dem Schock des Korea-Krieges[259] und zusätzlicher innerdeutscher Besorgnisse nach dem 17. Juni 1953. Die besonders von Bundeskanzler Adenauer[260] vorangetriebene Aufstellung eigener Streitkräfte war einer der wesentlichen Pfeiler der Westintegration und somit eine der politisch umstrittensten Verfassungsänderungen überhaupt. Über pro und contra wurde in der frühen und noch mit so vielen anderen Lasten beschwerten Bundesrepublik mit einer „Leidenschaft und Erbitterung“[261] diskutiert, die in späteren Jahrzehnten ihresgleichen suchte.[262] Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges lag für viele die Remilitarisierung Deutschlands vollkommen außerhalb des Vorstellbaren. Zudem sah insbesondere die SPD darin das größte Hindernis für eine baldige Wiedervereinigung.[263] Der damalige Innenminister und spätere Bundespräsident Heinemann verließ erst das Kabinett und dann die CDU, um die einen strikten Neutralitätskurs fahrende Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) zu gründen.[264] Auch der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschlands sprach sich eindeutig gegen die Wiederbewaffnung aus,[265] während aus der katholischen Kirche deutlich verhaltenere Kritik zu vernehmen war.[266] Der Widerstand fand seinen symbolischen Höhepunkt im „Deutschen Manifest“, das eine im Wesentlichen aus der SPD, den Gewerkschaften und dem protestantischen Bürgertum rekrutierte außerparlamentarische Protestbewegung mit Persönlichkeiten wie Erich Ollenhauer, Helmut Gollwitzer, Alfred Weber oder Martin Niemöller an der Spitze in der Frankfurter Paulskirche am 29. Januar 1955 verabschiedete, ohne damit am eingeschlagenen Kurs noch irgendetwas ändern zu können.[267]
b) Notstandsverfassung
74
Die Notstandsverfassung hat nicht nur die Verfassungslage „einschneidend verändert“[268]. Sie polarisierte die innenpolitische Debatte und politisierte die Öffentlichkeit, die Universitäten eingeschlossen.[269] Hauptgegner waren bis zuletzt die Gewerkschaften, die angesichts der Großen Koalition gleichsam die Hauptlast der Opposition trugen. Aber auch viele „freischwebende“ Intellektuelle engagierten sich in bislang kaum dagewesener Weise.[270] Befürchtungen einer vollständigen autoritären oder gar totalitären Umbildung des Staates gingen um und verbreiteten höchste Alarmstimmung.[271] Die einschlägigen Titel repräsentativer Sammelbände und Streitschriften wie „Notstand der Demokratie“[272], „Der totale Notstandsstaat“[273], „Gefahr im Verzuge“[274] verliehen den tatsächlich empfundenen oder auch politisch dramatisierten Sorgen ebenso beredten Ausdruck wie die denunziatorische Abkürzung der Notstandsgesetze als „NS-Gesetze“[275]. Der Protest gipfelte in einem Sternmarsch nach Bonn im Mai 1968. Katalysatorische Funktion für die nachdrückliche Wucht der außerparlamentarischen Opposition hatte sicher, dass die Verabschiedung in der Endphase der Großen Koalition zusammenfiel mit den Studentenunruhen,[276] den Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und dem mit alledem verbundenen tiefgreifenden Umbruch des gesellschaftspolitischen Klimas insgesamt. Die Notstandsgesetzgebung bildete den „Kristallisationspunkt der Studentenrevolte und der erstmals politisch hervortretenden außerparlamentarischen Opposition“[277]. Deshalb ist es auch kurzsichtig, von einem Abebben des Protests nach Verabschiedung der Notstandsverfassung zu sprechen.[278] Der Widerstand formte sich vielmehr in den darauffolgenden Jahren in einer viel prinzipielleren Weise zur Fundamentalopposition um, die nicht lediglich einer Verfassungsnovelle innerhalb des Systems, sondern dem System als solchem galt. 1968 war eben auf vielfältige Weise ein „Epochenjahr“[279].
c) Grundrechtsdämmerung?
75
Als verfassungsstaatlich besonders sensibel müssen Einschränkungen von Grundrechtsgewährleistungen gelten. So kann man es als ein besorgniserregendes Zeichen verstehen, dass allein seit der deutschen Wiedervereinigung fünf Änderungen im Grundrechtsabschnitt zu verzeichnen sind, von denen einige eine „Absenkung des bisherigen grundrechtlichen Schutzstandards oder dessen Relativierung“ bewirkten.[280] Insbesondere die Asylrechtsnovelle