sichern, sondern auch über einen heute oft eingeschlagenen Weg in Konkurrenz zu ihm treten. Diese strukturelle Schwäche ist das Ergebnis der begrenzten verfassungsgerichtlichen Funktionen, die der Conseil constitutionnel übernimmt. Das Charakteristikum des französischen Systems liegt in der strikten Trennung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit. Mangels konkreter Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden existieren zwischen dem Conseil constitutionnel und den Fachgerichten keinerlei prozedurale Beziehungen. Dies führt zur völligen Isoliertheit des Conseil constitutionnel, da dieser nie in der Lage ist, seine Meinungen und Auslegungen bei den Fachgerichten durchzusetzen.
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Wenngleich der Conseil constitutionnel die im Art. 62 Abs. 5 CF statuierte Bindungswirkung seiner Entscheidungen als „formelle Rechtskraft“ (autorité de chose jugée) gedeutet hat, so können die Fachgerichte sich dennoch ermutigt fühlen, diese Bindungswirkung als streng beschränkt anzusehen. Die Bindungswirkung erstreckt sich zwar sowohl auf die Entscheidungsformel als auch auf die tragenden Gründe; ihrer Natur nach gelten die Entscheidungen des Conseil constitutionnel also auch im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle erga omnes. Diese Wirkung ist im Hinblick auf den Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Entscheidung jedoch strikt begrenzt. Das gehört zum traditionellen Begriff der autorité de chose jugée. Schon in seiner oben erwähnten Entscheidung vom 10. Oktober 2001 (Rn. 53) hat der Kassationshof die Frage nach der Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen wie folgt beantwortet: „Die Entscheidungen des Conseil constitutionnel sind gegenüber den Staats- und Verwaltungsbehörden sowie allen Gerichten nur hinsichtlich des von ihm geprüften Textes bindend.“ Damit ist das Fachgericht freier Interpret der Verfassung, soweit es keinen vom Conseil constitutionnel geprüften Text anwendet. Diese Bemerkung ist wichtig, da sich die Beziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit ausschließlich nach der Bindungswirkung der Entscheidungen der ersteren richtet. Letztendlich bestimmt aber die Fachgerichtsbarkeit selbst und souverän, wie diese Bindungswirkung zu verstehen ist, und legt die Interpretationen des Conseil constitutionnel frei aus.[172]
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In vielen Verfassungsordnungen ist die Verfassungsgerichtsbarkeit Motor und Nutznießer der „Konstitutionalisierung“ der Rechtsordnung zugleich. Neben dieser relativ neuen Herrschaft der Verfassung über das nationale Rechtssystem fallen neuerdings auch die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts vermehrt ins Gewicht. Laut Art. 55 CF „gehen internationale Verträge und Abkommen den Gesetzen vor“. In seiner Abtreibungs-Entscheidung vom 15. Januar 1975[173] hat der Conseil constitutionnel die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen von der Frage nach deren „Vertragsmäßigkeit“ völlig abgekoppelt: Ein Gesetz, das mit einem völkerrechtlichen Vertrag in Widerspruch steht, verstößt nicht schon deswegen gegen die Verfassung. Da die in Art. 61 CF festgesetzte Aufgabe des Conseil constitutionnel sich auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen beschränkt, steht es dem unter Berufung auf Art. 61 CF angerufenen Conseil constitutionnel nicht zu, über die Frage nach der Vertragsmäßigkeit eines Gesetzes zu befinden. In seiner berühmten Nicolo-Entscheidung vom 20. Oktober 1989[174] hat der Conseil d’État nach dem Kassationshof[175] entschieden, dass die Verwaltungsgerichte die Prüfung der Vertragsmäßigkeit von Gesetzen zu übernehmen hätten. In seiner 1996 getroffenen Moussa Koné-Entscheidung[176] hat er hinzugefügt, dass internationale Verträge verfassungskonform auszulegen seien. Schließlich hat der Conseil d’État in der Sarran-Entscheidung von 1998[177] festgestellt, in der nationalen Rechtsordnung habe die Verfassung gegenüber völkerrechtlichen Verträgen Vorrang. Diese Rechtsprechung gilt auch für primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht, wobei der Kassationshof im Grunde der Rechtsprechung des Conseil d’État folgt.[178] In seiner Entscheidung vom 19. November 2004 zur EU-Verfassung hat der Conseil constitutionnel den Vorrang der Verfassung innerhalb der nationalen Rechtsordnung im Grundsatz bestätigt.[179] Prüft ein Fachgericht die Vertragsmäßigkeit eines Gesetzes und bei dieser Gelegenheit auch die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Vertrags, handelt es sich um ein doppeltes Übergreifen der Fachgerichtsbarkeit in den Kompetenzbereich des Conseil constitutionnel. Erstens ist dieser nach Art. 54 CF befugt, Verträge auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu kontrollieren, und zweitens handelt es sich in dem geschilderten Falle wenigstens indirekt auch um eine Verfassungsmäßigkeitskontrolle des in Frage stehenden Gesetzes.
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Darüber hinaus ist die viel gepriesene Rolle des Conseil constitutionnel als Hüter der Grundrechte etwas zu relativieren. Die Verträge, an die Frankreich gebunden ist, enthalten genügend Grundrechtsbestimmungen; man denke bloß an die EMRK.[180] Die Prüfung eines Gesetzes durch die Fachgerichtsbarkeit ist zwar formal und unter Vorbehalt des oben Gesagten keine Verfassungsmäßigkeitskontrolle, doch stellt sie materiell betrachtet eine Grundrechtsprüfung dar. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei überdies betont, dass die Fachgerichtsbarkeit diese Grundrechtsprüfung konkret und je nach Lage des Einzelfalls vornimmt, während der Conseil constitutionnel immer „abstrakter“ Hüter der Grundrechte bleibt. Zudem hat das Gesetz vom 30. Juni 2000 in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein besonderes Eilverfahren zum Schutz der „Grundfreiheiten“ (Référé-liberté) eingeführt,[181] wohingegen vor dem Conseil constitutionnel ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbares Verfahren fehlt.
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Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass der Conseil constitutionnel im Rahmen abstrakter Normenkontrollverfahren ausschließlich über formelle Gesetze urteilen kann. Rechtsverordnungen sowie jedwede Norm der Exekutive sind seinem Zuständigkeitsbereich entzogen. Im Gegenzug ist die ordentliche Anfechtungsklage (Recours pour excès de pouvoir) vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen alle Normen der Exekutive und sonstiger Verwaltungsbehörden prinzipiell zulässig. In seiner Leitentscheidung Chemins de fer de l’Est vom 6. Dezember 1907 hat sich der Conseil d’État als höchstes Verwaltungsgericht, als Richter aller von der Exekutive erlassenen Normen etabliert.[182] Seit 1958 gilt dies auch für die in Art. 38 CF geregelten „Ordonnances“ (oben Rn. 81), solange diese noch nicht vom Parlament ratifiziert worden sind,[183] sowie für die so genannten „autonomen“ Rechtsverordnungen (oben Rn. 79f.).[184] Für die Anfechtung solcher Normen, die von den höchsten Exekutivorganen des Staates erlassen werden, ist unmittelbar der Conseil d’État in erster Instanz zuständig.[185]
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › III. Die Struktur des Verfassungssystems › 3. Die strukturierenden Grundsätze des Systems
a) Republik: allgemeine Betrachtungen
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Republik ist zunächst als eine Regierungsform zu begreifen, in der politische Mandate zeitweilig anvertraut werden, also weder lebenslänglich noch vererbbar sind.[186] Die Republik in eben diesem formellen Sinn wird durch Art. 89 Abs. 5 CF garantiert, nach dessen Maßgabe „die republikanische Regierungsform nicht zum Gegenstand einer Änderung gemacht werden“ kann.[187] Indes stand die „Republik“ in der französischen Vorstellung von Politik schon immer für mehr. Sie ist, vom Standpunkt des „Republikanimus“ aus betrachtet, dessen ideologische Ursprünge zumindest auf Rousseau zurückgehen, die Substanz des französischen Staats. Sie trägt also auch einen materiell-normativen Gehalt. Dieser hat eine „Tradition“ begründet, die auch eine gewisse juristische Tragweite hat.[188] Diese republikanische Substanz ist auf zwei Arten verfassungsrechtlich garantiert: die Anerkennung des juristischen und verfassungsrechtlichen Wertes der