Robert Esser

Handbuch des Strafrechts


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weiter entwickelnden Sozialmoral ab, so sinkt bei den Strafverfolgungsbehörden die Bereitschaft, die Strafnormen durchzusetzen; Interpretationsspielräume werden genutzt, um die Strafnormen der Sozialmoral anzupassen. Gleichzeitig nimmt bei den Rechtsunterworfenen die Bereitschaft zur Normbefolgung ab; vereinzelte staatliche Sanktionen werden scharf kritisiert. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine derartige Entwicklung stellt der Bedeutungsverlust der gesetzlichen Regeln über den Schwangerschaftsabbruch in den späten 70er und 80er Jahren dar.[78]

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      Umstritten ist, ob die Einhaltung bestimmter moralischer Standards als Geltungsbedingung für Recht verwendet werden kann oder sollte. Der bekannteste Vorschlag dazu stammt von dem Rechtsphilosophen, Strafrechtswissenschaftler und Rechtspolitiker Gustav Radbruch (1878–1949). Rechtsnormen, die in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sind, sollen grundsätzlich auch dann gelten, wenn sie dem Rechtsanwender als moralisch bedenklich oder sogar unmoralisch erscheinen. Radbruch schlägt aber vor, von diesem Grundsatz bei extrem unmoralischen und geradezu „unerträglichen“ Rechtsnormen eine Ausnahme zu machen. Er verdeutlicht dies an der Frage nach der rechtlichen Relevanz nationalsozialistischer Rechtssetzung:

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