Klaus Ulsenheimer

Arztstrafrecht in der Praxis


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eines Behandlungsfehlers an, untersuchte die Staatsanwaltschaft auf Grund gewisser Äußerungen des Sachverständigen die Frage, ob die Beschuldigte die damals 17-jährige Patientin ordnungsgemäß aufgeklärt hatte. Während die Ärztin dies bejahte und das Aufklärungsgespräch eingehend schilderte, behauptete die Anzeigeerstatterin als Zeugin in – wie die Staatsanwaltschaft meinte – „unzweifelhafter und völlig glaubhafter Weise“ (!) das Gegenteil. Das Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung wurde erst gegen Zahlung einer Geldbuße von 5.000 DM gem. § 153a StPO eingestellt.[16] 4. Bei einer 85-jährigen Patientin stellten sich plötzlich Durchblutungsstörungen am rechten Bein ein, die eine sofortige Amputation zur Lebensrettung notwendig machten. Die Angehörigen – Kinder und Enkelkinder – fühlten sich übergangen und erstatteten Strafanzeige, weil man nicht rechtzeitig einen Pfleger (heute: Betreuer) bestellt und die Einwilligung zu der Operation eingeholt habe. Die Staatsanwaltschaft teilte diese Auffassung und beantragte den Erlass eines Strafbefehls von 60 Tagessätzen, gegen den der Arzt Einspruch einlegte. Den Einwand der Verteidigung, abgesehen vom Vorliegen der Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung und des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB wäre der Pfleger zur Erteilung der Zustimmung zu der vital indizierten ärztlichen Maßnahme verpflichtet gewesen und daher die fehlende Aufklärung für den Gesundheitsschaden nicht kausal, wies die Staatsanwaltschaft als unzutreffend zurück. Ihre fast groteske Begründung lautete: Da als Pfleger der Enkel der Patientin bestellt worden wäre und dieser ausweislich der Ermittlungsakten sein Einverständnis mit der vorgenommenen ärztlichen Maßnahme nicht erklärt hätte, sei die Kausalität des Aufklärungsmangels evident und der Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung begründet. Demgegenüber entschied das Amtsgericht Schongau zu Recht auf Freispruch. 5. Bei einer laparoskopisch durchgeführten Blinddarmoperation eines neun Jahre alten Jungen verletzte der chirurgische Chefarzt die Beckenschlagader. Trotz zweier Versuche gelang es ihm nicht, die verletzte Arteria illiaca erfolgreich zu übernähen, so dass er den Patienten in das nächstgelegene Krankenhaus mit einem gefäßchirurgischen Spezialisten verlegte. Infolge der über mehrere Stunden anhaltenden Mangeldurchblutung des rechten Beines starben die Muskeln und Nerven am rechten Unterschenkel des Kindes größtenteils ab, so dass die Unterschenkelmuskulatur später operativ entfernt werden musste. Das rechte Bein blieb deshalb auf Dauer geschädigt. Daraufhin erstattete die Mutter des Kindes Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft nahm sich des Falles mit ungeheurem Engagement an und warf in der Anklageschrift dem Mediziner vor, er habe die laparoskopische Methode noch nicht genügend beherrscht und deshalb die schwere Verletzung schuldhaft verursacht. Dies ließ sich in der Hauptverhandlung jedoch nicht mit der notwendigen Sicherheit nachweisen, so dass die Entscheidung ganz von der Beurteilung des weiteren Anklagevorwurfs abhing, es fehle die wirksame Einwilligung der Mutter, da sie nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden sei. Insoweit hatte der Operateur zwar die Stationsärztin gebeten, die Mutter über die laparoskopische Methode zu informieren, doch musste Erstere in der Hauptverhandlung vor Gericht einräumen, selbst über keine nennenswerten Kenntnisse in dieser neuartigen Technik zu verfügen und deshalb nicht in der Lage gewesen zu sein, über deren methodenspezifische Besonderheiten und Risiken sachgerecht aufzuklären. Ob die erforderliche Einwilligung vorlag, hatte der Angeklagte vor Beginn der Operation nicht mehr durch Einsichtnahme in das Aufklärungsformular oder Rückfrage geprüft. Darin sah das Gericht einen fahrlässigen Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und verurteilte ihn zu 60 Tagessätzen[17]. 6. Bei HWS-Dissektomien setzte der Angeklagte in der zweiten Hälfte des Jahres 1990 nach Entfernung der abgenutzten Halsbandscheibe als Abstandhalter einen aufbereiteten Rinderknochen („Surgibone“-Dübel) zwischen den angrenzenden Wirbelkörpern ein, obwohl zu jener Zeit in der Bundesrepublik üblicherweise Abstandhalter aus Eigenknochen oder aus Kunststoff verwendet wurden. Beide Verfahren haben unterschiedliche Vor- und Nachteile mit verschiedenen Komplikationsrisiken. Bei dem „Surgibone“-Dübel handelte es sich um ein nach dem deutschen Arzneimittelgesetz zulassungspflichtiges, vom Bundesgesundheitsamt zur Tatzeit aber nicht zugelassenes Arzneimittel, ein Umstand, über den der Arzt die Patientin nicht unterrichtet hatte. Die Methode war jedoch außerhalb Deutschlands, insbesondere in Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien und Skandinavien weit verbreitet. Ein Verstoß gegen den medizinischen Standard konnte dem Angeklagten daher nicht nachgewiesen werden. Das Landgericht verurteilte ihn jedoch wegen (vorsätzlicher (!)) Körperverletzung zu einer Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen, da es in sechs Fällen im Anschluss an die von ihm durchgeführten Operationen zu Spankomplikationen, erneuten Beschwerden und teilweise zu Zweiteingriffen gekommen war, d.h. zur Verwirklichung von Risiken, über die die Patienten nicht aufgeklärt worden waren. „Von einer umfassenden Aufklärung über die unterschiedlichen Materialien der gebräuchlichen Interponate sowie ihre spezifischen Vor- und Nachteile war auf Anweisung des Angeklagten jeweils abgesehen worden, um die Patienten nicht zu verunsichern“. Der BGH hob das Urteil auf,[18] da der Angeklagte von der Vorstellung ausgegangen war, er müsse die Patienten über die Möglichkeit der Verwendung anderer Interponate nicht unterrichten, also irrig einen rechtfertigenden Sachverhalt angenommen hatte, der die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tat ausschließt. Darüber hinaus gab der BGH für die neue Hauptverhandlung dem Tatgericht auf, die Frage der hypothetischen Einwilligung und den Aspekt des Schutzzwecks der Norm näher zu prüfen. 7. In einem weiteren Strafverfahren – ausgelöst durch eine Strafanzeige der Patientin – stand im Mittelpunkt der Vorwurf, durch den bei der Geburt erfolgten Dammschnitt habe sie sich eine Schließmuskelverletzung zugezogen. Wörtlich heißt es: „Die Vornahme des Dammschnitts dergestalt, dass der Schließmuskel verletzt wird, stellt einen Behandlungsfehler dar. Zumindest hätte man der Gebärenden darüber Aufklärung geben müssen, dass bei einem Dammschnitt eine Schließmuskelverletzung als Komplikation möglich ist“, was der Patientin „die Möglichkeit gegeben hätte zu entscheiden, ob sie dieses Risiko eingehen oder von vornherein die Geburt im Wege des Kaiserschnitts durchführen lassen will“. Nach Ansicht des Sachverständigen stellt der Dammschnitt jedoch „keine aufklärungspflichtige geburtshilfliche Maßnahme dar. Es handelt sich um eine insbesondere im Rahmen einer operativen Entbindung erforderliche Zusatzmaßnahme“. Das Ermittlungsverfahren wurde daraufhin eingestellt.[19] 8. Bei einem Schwangerschaftsabbruch kollabierte die Patientin nach Verabreichung eines Lokalanästhetikums und verstarb trotz sofort eingeleiteter Reanimationsmaßnahmen zwei Tage später. Umfangreiche fachanästhesiologische und rechtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass das für die örtliche Betäubung der Patientin verwandte Lokalanästhetikum nicht kontraindiziert gewesen und die bei der Paracervikalblockade erfolgte Verletzung eines kleineren Gefäßes „nicht mit letzter Sicherheit“ vermeidbar gewesen sei. Diese Gefäßverletzung war jedoch offenbar ursächlich für den weiteren Verlauf, da der Wirkstoff Bupivacain dadurch in die Blutbahn der Patientin gelangt war und einen nicht vorhersehbaren und nicht vermeidbaren Herz-Kreislauf-Stillstand ausgelöst hatte. Da auch die sofort durchgeführten Reanimationsmaßnahmen lege artis erfolgten, war nach Auffassung des Staatsanwaltes „lediglich noch die Frage zu prüfen, ob der Eingriff infolge einer unvollständigen Risikoaufklärung mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig war“. Insoweit heißt es in der Einstellungsverfügung, die Patientin sei „nur über das möglicherweise in einen Herz-Kreislauf-Stillstand mündende Risiko eines allergischen Schocks“, nicht aber „über das Risiko einer intravasalen Injektion“ aufgeklärt worden, doch scheitere „eine Strafbarkeit des Beschuldigten wegen Körperverletzung an der fehlenden Kausalität des Aufklärungsmangels für die Einwilligung der Patientin“. Da diese „trotz des ihr bekannten geringeren Risikos der Vollnarkose auf jeden Fall der Anwendung der Lokalanästhesie den Vorzug gegeben hätte, hätte sie auch das damit verbundene gesteigerte Risiko eines Herz-Kreislauf-Stillstands infolge