des Mörders zu ermitteln Die »Kunst« dieser Leute hatte auch das Ergebnis, daß ein Jude aus rituellen Gründen der Mörder sein müsse. Den wirklichen Täter konnten sie aber weder mittels Karten, noch durch Entzünden einer Spiritusflamme, noch aus den Handlinien und auch nicht durch anderen Blödsinn feststellen. Trotzdem hatten diese Gaukler einen ungemein groBen Zulauf, denn die erregte, abergläubische Bevölkerung bediente sich aller Mittel, um den verruchten Mörder zu entdecken. Die Gaukler hatten sogar die Frechheit, ihre Hilfe den Berliner Kriminalbeamten, die auf Befehl des Ministers des Innern zwecks Ermittelung des Mörders nach Konitz geschickt waren, gegen Bezahlung anzubieten. In Konitz wohnte zur Zeit ein jüdischer Zahnarzt. Eines Tages erschien bei diesem ein Mann mit dem Ersuchen, ihm seine Zähne zwecks Plombierens nachzusehen. Der Zahnarzt sagte dem Mann: ein Zahn sei krank, der müßte entfernt werden. Der Mann erwiderte: er habe heute keine Lust, sich einer, wenn auch mittels Lachgas bewirkten schmerzlosen Zahnoperation zu unterziehen, er werde in einigen Tagen wiederkommen. Der Mann war aber nur von seinem Wohnort Landsberg a.d.W. nach Konitz gekommen und hatte den Zahnarzt aufgesucht, weil er in diesem den Mörder des Winter vermutete. Sofort nach seinem Weggange erstattete er bei der Polizei gegen den Zahnarzt Anzeige wegen Mordes mit ungefähr folgender Begründung: Ich halte den Zahnarzt für den Mörder des Winter. Einmal ist der Zahnarzt Jude und andererseits ist festgestellt, daß der ermordete Winter schlechte Zähne hatte. Er hat vielleicht den Zahnarzt aufgesucht, und dieser hat ihm, ebenso wie mir, vorgeschlagen, sich einer Zahnoperation zu unterwerfen, die mittels Betäubung vorgenommen wurde. Auf diese Art konnte der Mord mit Leichtigkeit ausgeführt werden. Bereits am folgenden Morgen in aller Frühe, es war noch dunkel auf den Straßen, wurde der damals noch unverheiratete Zahnarzt unsanft aus dem Schlafe geklopft. Sechs Polizeibeamte unter Führung eines Polizeikommissars traten mit brennenden Laternen beim Zahnarzt ein und erklärten ihn wegen Mordverdachts für verhaftet. Selbstverständlich wurde sofort eine umfassende Haussuchung vorgenommen, die aber nicht das geringste Ergebnis hatte. Nach einigen Tagen wurde, da auch nicht die leiseste Spur für die Täterschaft des Zahnarztes festgestellt werden konnte, letzterer wieder in Freiheit gesetzt.
Aber auch eine Anzahl Privatdetektivs und sonstige existenzlose Leute, sogenannte Journalisten, schlugen in Konitz schleunigst ihren Wohnsitz auf, um den Mörder zu entdecken und sich die hohe Belohnung zu verdienen. Um sich den Lebensunterhalt zu verschaffen, korrespondierten diese Leute über die Verhältnisse des Städtchens, das damals geradezu in den Mittelpunkt der Welt gerückt war, für alle möglichen Zeitungen. Die einzige in Konitz erscheinende Zeitung, das antisemitische ›Konitzer Tageblatt‹, trug auch nicht wenig zur Verhetzung der Bevölkerung bei. Die Verhetzung nahm einen derartigen Grad an, daß die christlichen Schüler selbst auf dem Gymnasium den Verkehr mit ihren jüdischen Mitschülern mieden und sich offen weigerten, mit ihnen auf derselben Bank zu sitzen. Einige Gymnasiallehrer, die dieser Verhetzung Vorschub geleistet hatten, mußten, da der öffentliche Frieden aufs ärgste gefährdet war, an ein anderes Gymnasium versetzt werden. Die Juden in Konitz und weitester Umgebung wurden vollständig gesellschaftlich geächtet und geschäftlich boykottiert. Alle Juden, die es möglich machen konnten, veräußerten ihr Besitztum und kehrten Konitz den Rücken. Das Geschäft sank unter Null. Geschäftsreisende ließen sich in Konitz und den Nachbarstädten nicht mehr sehen. Da die Straßenkrawalle sich wiederholten und einen immer heftigeren Charakter annahmen, so traf auf persönlichen Befehl des Kaisers eine Kompagnie Soldaten aus Graudenz in Konitz ein. Das Militär wurde in allen Städten, das es zu passieren hatte, mit dem Rufe: ›Judenschutztruppe‹ empfangen. In Konitz vermochte das Militär erst, als es mit gefälltem Bajonett vorging, die Ruhe wiederherzustellen. Selbst einem Geheimen Regierungsrat, den der Minister des Innern nach Konitz gesandt hatte, gelang es nicht, die krawallierende Menge zu beruhigen. Auf Anordnung des Ministers des Innern war Kriminalkommissar Wehn, jetzt Kriminalpolizei-Inspektor, später Kriminalpolizei-Inspektor Braun, Kriminalpolizei-Inspektor Klatt und die Kriminalkommissare v. Kracht und v. Bäckmann sowie eine Anzahl Kriminalschutzleute, sämtlich vom Berliner Polizeipräsidium, nach Konitz gesandt worden. Allen diesen Beamten gelang es aber nicht, die Persönlichkeit des Mörders festzustellen. Am Karfreitag, mittags gegen 1 Uhr, wurde in der Nähe des außerhalb der Stadt belegenen Schützenhauses der Kopf des ermordeten Winter aufgefunden. Ein alter, kurzsichtiger Gerichtskastellan namens Fiedler behauptete: er habe am Karfreitagvormittag den jüdischen Handelsmann Israelski mit einem großen Sack auf dem Rücken beim Gerichtsgebäude vorüber nach dem Wege zum Schützenhaus gehen sehen. Die Form des Sackinhalts ließ darauf schließen, daß der Sack einen menschlichen Kopf geborgen habe. Israelski sei nach einiger Zeit mit leerem Sack und beschmutzten Stiefeln zurückgekommen. Israelski bestritt aufs entschiedenste, zu dem Winterschen Morde in irgendwelcher Beziehung gestanden zu haben. Er trage eines Fußleidens wegen überhaupt keine Stiefel. Eine, bei Israelski vorgenommene Haussuchung förderte nicht das geringste zutage. Auch Stiefel wurden bei Israelski nicht gefunden. Obwohl die Behauptungen Fiedlers von niemandem bestätigt werden konnten, wurde Israelski wegen Begünstigung des unbekannten Mörders, auf Grund des Paragraphen 257 des Strafgesetzbuches, angeklagt. Er hatte sich am 8. September 1900 vor der Strafkammer des Konitzer Landgerichts zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Böhnke. Die Anklagebehörde vertrat der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Maschke (Konitz) und Justizrat Dr. v. Gordon (Berlin). Zu der Verhandlung erschien auch der Vater des ermordeten Gymnasiasten Winter als Zeuge.
Erster Staatsanwalt: Es ist Ihnen ein anonymer Brief zugegangen, in dem Ihnen 50000 Mark geboten wurden? Wie verhält es sich damit?
Zeuge: Das ist richtig, der Brief war in Hammerstein aufgegeben worden, und es hieß darin im Anschluß an die Meldung, daß das Verfahren gegen den Schlächtermeister Hoffmann eingestellt sei: »Wir haben nun schon 200000 Mark weggeworfen und bieten Ihnen jetzt 50000 Mark, wenn Sie in den ›Geselligen‹ (Graudenz) ein Inserat folgenden Inhalts einrücken: ›Winter schweigt!‹ Wir Juden haben es getan, wir haben nicht anders gekonnt, das ist unser Trost.«
Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wo ist der Brief hingekommen? Zeuge: Ich habe ihn dem Herrn Schrader gegeben, der ihn dem Abgeordneten Liebermann von Sonnenberg übermitteln wollte. Ich sollte den Brief heute zurückbekommen, um ihn hier vorlegen zu können. Leider ist er mir bisher nicht zurückgegeben worden.
Sanitätsrat Dr. Müller bekundete als Sachverständiger: Der Kopf und die einzelnen Körperteile des Ermordeten waren vollständig blutleer. Der Tod müsse infolge Verblutung erfolgt sein, die durch einen Querschnitt durch den Hals herbeigeführt wurde. Der Kopf sah bei der Auffindung vollständig frisch aus und war auch völlig geruchlos. Die Sektion ergab, daß die Speiseröhre und auch die Rachenhöhle mit Mageninhalt vollgestopft war. Demnach muß dem tödlichen Schnitte ein Würgungsakt voraufgegangen sein. Auf Befragen des Justizrats Dr. v. Gordon erklärte der Sachverständige, die Verblutung müsse bei Lebzeiten, nicht bei der Zerstückelung der Leiche eingetreten sein. Auch die übrigen Leichenteile seien frisch und geruchlos gewesen, etwa als wenn sie im Keller aufbewahrt worden seien. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts erklärte der Sachverständige, zwei andere Sachverständige haben erklärt, daß die Zerstückelung von sachkundiger Hand vorgenommen worden sei. Dafür spreche die Auslösung der Schenkel, die wie bei Tieren vorgenommen war.
Der zweite Sachverständige, Gerichtsarzt Privatdozent Dr. Puppe (Berlin), bekundete: Bei der Untersuchung waren die Lungen an der Schnittfläche braunrot, während anämische Lungen blaß sind. Diese Färbung der Lunge spricht gegen Verblutung. Die Blutleere ist nur in inneren Organen erkennbar, diese fehlen aber außer den Lungen. Da der Körper zerschnitten ist konnte sich das Blut auch nach dem Tode entleeren, um so mehr, als der Körper mit Wasser in Verbindung gekommen ist. Auch die Herzklappen, die inneren Wände der Arterien und die Venen des Oberschenkels waren braunrot; ferner spricht gegen Verblutung das Fehlen der Suffusion an der Schnittfläche. Vors.: Sie meinen, daß der Tod absolut durch Erstickung herbeigeführt worden ist? Sachverständiger: Nein, es ist nur wahrscheinlich. Aber die für die Verblutung sprechenden Gründe erscheinen unsicher und zweifelhaft. Der Sachverständige hielt es in seinen weiteren Ausführungen für möglich und wahrscheinlich, daß der Kopf mit der Schnittfläche im Wasser gelegen habe und, da der Moorboden bekanntlich desinfizierende und konservierende Eigenschaften besitze, auf diese Art so gut erhalten sei. Die weitere Beweisaufnahme förderte nicht das mindeste für die Schuld des Angeklagten zutage. Der Erste Staatsanwalt