Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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das Lied 4 im 19. Jahrhundert so große Erfolge feiern konnte, lag vor allem daran, daß es als das ideale Medium der individuell-persönlichen, [<<22] subjektiv-erlebnishaften Sicht der Dinge begriffen wurde, der Raum zu geben das wichtigste Ziel des Ringens um eine autonome Kunst war. Wenn Metrum und Vers, Reim und Strophe durch die regelmäßige Wiederholung bestimmter akustischer Charaktere die Sprache zum Klingen bringen, so lassen sie damit eine Art Wortmusik entstehen, und solche Wortmusik galt wie die Musik überhaupt als besonders geeignet, um Gefühlen und Stimmungen Ausdruck zu verleihen, um das zum Vorschein zu bringen, was den innersten Kern der Person ausmacht, was sich namenlos am Grund der Seele regt und eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Besonders gut sollte dies aber eben mit Hilfe liedhafter Strophen gelingen, da sie die „Natürlichkeit“, die Einfachheit und Schlichtheit des Volkslieds mit sich bringen, so daß in ihnen weder das moderne Bildungswissen noch der moderne Kunstverstand dem Stimmungsleben und dem Ausströmen des Gefühls mit ausgeklügelten Kunststücken in die Quere kommen können.

      Und noch besser sollte der Erfolg sein, wenn der Autor in der quasi-natürlichen Form des Lieds auch einen natürlichen Inhalt gestaltete, wenn er nämlich das lyrische Ich in der „freien Natur“ zeigte, als einem Raum, in dem es sich so weit wie möglich von dem zu lösen vermag, was die Gesellschaft seinem Selbstsein in den Weg legt, in dem es ganz bei sich selbst ankommen kann. So hatte es der meistbewunderte Klassiker der deutschen Lyrik, hatte es Goethe in seinen Liedern vorgemacht, so hat es die klassische Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) bis Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) beschrieben, und so haben es die Lyriker des 19. Jahrhunderts weithin gehalten. Das Motto war: „Ich singe, wie der Vogel singt“, ein Vers von Goethe, den dieser freilich mit Bedacht dem unglücklichsten aller Liedsänger, dem Harfner – einer Figur seines Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – in den Mund gelegt hatte. Wie der Gesang des Vogels sollte das Gedicht spontan und intuitiv, um nicht zu sagen: instinktiv der bewegten Seele des Dichters entströmen und sich nicht weniger unmittelbar dem Leser mitteilen.

      In diesem Glauben hat das 19. Jahrhundert eine ständig wachsende Flut von liedhaften Gedichten hervorgebracht, und viele von ihnen sind mit den Jahren nicht weniger populär geworden als die alten Volkslieder. Die „Gedichte“ des Liedmeisters Geibel aus dem Jahr 1840 erschienen 1903 in der 130. Auflage, und die „Lieder des Mirza [<<23] Schaffy“ (1851) von Friedrich Bodenstedt (1819–1892) brachten es gar auf über 200 Auflagen. Viele von ihnen sind bald auch vertont worden, sind also zu wirklichen Liedern geworden, und manche haben wie Geibels „Der Mai ist gekommen“ in dieser Gestalt in der Tat den Status eines Volkslieds erlangt. Und nicht nur gestandene Dichter, auch eine große Zahl von Laien hat sich in liedhafter Lyrik geübt, suchte mit selbstgemachten Gedichten dem geselligen Leben Glanzlichter aufzustecken. Jede höhere Tochter, die auf sich hielt, hütete in ihrem Salon eine lyrische Voliere, in der gesungen wurde, wie der Vogel singt.5

      Kritik an der liedhaften Lyrik

      Und so blieb es, als schon längst Eisenbahnen die Maienlandschaften durchmaßen und Fabrikschlote den Busen der Natur einräucherten. Der Dichter saß, wie Wilhelm Busch (1832–1908) in einer Szene der Bildergeschichte vom verhinderten Dichter Balduin Bählamm (1883) festgehalten hat, im Coupé der Eisenbahn und sang, wie der Vogel singt. Auf die Idee, zu fauchen und zu pfeifen wie die Lokomotive oder Gedichte zu bauen wie eine Bahnhofshalle aus Stahl und Glas, kam zunächst noch niemand. Das änderte sich erst in den neunziger Jahren. Da trat etwa der Naturalist Arno Holz (1863–1929), ein Autor, der sich in den achtziger Jahren noch zur Gemeinde Geibels bekannt und gemeint hatte, mit liedhafter Lyrik in die neue Zeit starten zu können – der Untertitel seiner frühen Gedichtsammlung „Buch der Zeit“ (1886) lautet „Lieder eines Modernen“ – mit einer poetologischen Kampfschrift in den Ring, in der er eine „Revolution der Lyrik“ (1899) ausrief und die Liedstrophe platterdings als „Leierkasten“ verwarf, um es in seinem zweibändigen lyrischen Zyklus „Phantasus“ (1898–1899) erneut mit Freien Rhythmen zu versuchen, ja mit einer noch weniger gebundenen Form, die er „natürlichen Rhythmus“ nannte. Die Kritik an der liedhaften Lyrik wurde allgemein, und es war nicht zuletzt solche Kritik, was eine moderne Lyrik auf den Weg brachte.6

      Benns Gedicht auf das Jahr 1886 kommt offensichtlich aus einer Welt, die mit dem Lyrikverständnis des 19. Jahrhunderts gebrochen [<<24] hat. Hier werden keine Verse gedrechselt, wird nicht vor sich hin gereimt und nicht gesungen, wie der Vogel singt. Zwar hat sich Benn wie manch anderer moderne Lyriker durchaus darauf verstanden, die Sirenenklänge einer Wortmusik in Szene zu setzen, wie Vers und Reim überhaupt in der Lyrik der Moderne einen Stellenwert behalten, der nicht zu unterschätzen ist. Aber sie bezeichnen hier nur noch eine Möglichkeit unter anderen. Neben ihnen stehen Formen, deren sachlich nüchterner Sprachgestus, deren „Lakonismus“ dem Gefühls- und Stimmungston der liedhaften Lyrik diametral entgegengesetzt ist, und sie bilden den Hintergrund, vor dem sich Vers und Reim zu bewähren haben. Wenn an Benns Gedicht überhaupt noch ein subjektiv-erlebnishaftes, individuell-persönliches Moment mit beteiligt sein sollte, dann drängt es sich jedenfalls nicht in den Vordergrund, gibt es sich nicht auf den ersten Blick schon zu erkennen.

      Rückzug des lyrischen Ichs

      So fällt bei der Lektüre von Benns „1886“ denn auch besonders auf, daß in ihm kein einziges Mal „ich“ gesagt wird, und dies obwohl hier ein Autor von seinem Geburtsjahr spricht, von dem Jahr, in dem sein Ich das Licht der Welt erblickte. Die Frage: wo komme ich her? und die stillschweigend mit ihr verbundene zweite Frage: wo bin ich hingeraten? werden nicht von persönlichen Erlebnissen und subjektiven Empfindungen und Stimmungen aus aufgerollt; diese bleiben unausgesprochen und kommen im Text allenfalls indirekt zum Ausdruck. Statt dessen werden allerlei Begebnisse der großen und kleinen Geschichte zusammengetragen, Objektiv-Faktisches aus Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Verkehrswesen, politischem und kulturellem Leben, einschließlich der zeitgenössischen Literatur. Es geht um Entwicklungen und Begebenheiten, die nichts mit der Person dessen zu tun haben, der da geboren worden ist, jedenfalls nicht mehr als mit der jedes anderen, der seinerzeit das Licht der Welt erblickte.

      Einzig gegen Ende des Gedichts findet sich ein indirekter Hinweis auf die Person dessen, der da spricht: 1886 ist das „Geburtsjahr gewisser Expressionisten“; das schließt den als Expressionisten bekanntgewordenen Benn mit ein. Aber dessen individuelles Ich tritt auch hier nicht aus der Phalanx derer hervor, die die Erfahrungen seiner Generation teilen, die alle gleichermaßen unter Verhältnissen herangewachsen sind, die den einen zum Vertreter einer inzwischen verbotenen, in der „inneren Emigration“ verschwundenen expressionistischen Literatur [<<25] hat werden lassen, den anderen, Wilhelm Furtwängler, zum Staatsdirigenten des Dritten Reichs, einen dritten, den expressionistischen Maler Oskar Kokoschka, zum Emigranten und einen vierten, den Generalfeldmarschall von W., zu einem großen Kriegsherrn, den freilich bereits der Heldentod ereilt hat.

      Und das alles wird in einer Sprache ausgebreitet, die keineswegs auf intuitive, spontane Weise dem Seelenleben des Autors entströmt, die weithin überhaupt nicht dessen individuelles Idiom repräsentiert und die insofern auch nicht unmittelbar von dessen innerer Befindlichkeit Zeugnis ablegen kann. Vielmehr bedient sich Benn der unpersönlichen Sprache, in der seinerzeit in den Zeitungen von alledem berichtet worden ist, in der es sich in die öffentlichen Diskurse hinein objektiviert hat. Daß er in der Tat auf die Zeitungssprache zurückgreift, wird in den Zeilen besonders deutlich, wo er die „Rubrik: der Leser hat das Wort“ ins Spiel bringt. Die Sprache des Gedichts ist weithin vorgeprägte Sprache, Sprache aus zweiter Hand. Das Ich des Autors bringt sich vor allem in der Auswahl und Zusammenstellung der Zeugnisse zur Geltung, in der Art und Weise, wie er – um eine Wendung von Benn selbst aufzunehmen – „zivilisatorische Realitäten“ „auf Spalier zieht“, wie er das zusammengetragene Material „montiert“ (GBE 405).

      Das lyrische Ich im 19. Jahrhundert

      Solchen Montagegedichten,7 die ohne das Wort „ich“ auskommen, begegnen wir erst in der Moderne; sie sind im 19. Jahrhundert noch völlig undenkbar. Das Gedicht des 19. Jahrhunderts versucht überall und immer, in allen Belangen ich zu sagen.

      Ich weiß nicht, was soll