Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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Subjektivität. Stuttgart 1983.

      12 Klaus Wieland: Der Strukturwandel in der deutschsprachigen Lyrik vom Realismus zur frühen Moderne. Bonn 1996.

      13 Hermann Hesse: Demian. In: ders.: Die Romane und die großen Erzählungen. Jubiläumsausgabe. Frankfurt 1998. Bd. 3, S. 7.

      14 Karl Riha: Cross-Reading und Cross-Talking. Stuttgart 1971.

      2 Aufbruch in die Moderne

      2.1 Programmatischer Modernismus

      2.1.1 Der Begriff „modern“

      Grüß Gott und Willkommen! Das Herz zum Gruße

      Tut weit euch auf die Sommermuse;

      Ja, seht mich nur an, gelehrte Herrn!

      Ihr möchtet wohl was Klassisches gern,

      Allein, vom Scheitel bis zum Fuße

      Bin ich modern, modern, modern!

      Ohne Kothurn und Tunika,

      Steh ich, ein Mädel von heute, da

      Und laß mir mein Heute, mein Heute nicht nehmen,

      Will mich in gar nichts Vergang’nes bequemen.

      Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,

      Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.

      Und ist auch ein Schimpfen

      Und Naserümpfen:

      Wo ist denn die große

      Hellenische Pose,

      Das Majestätische,

      Donnerpathetische,

      Und was man noch sonsten das Klassische nennt:

      Das herzheiße Heute ist mein Element.

      Drum, was auch die Alten in Ehren gesungen,

      Ich liebe die wagemutigen Jungen,

      Die durch das bunte Heute schweifen,

      Des Lebens lachende Blumen greifen

      Und aus des Heute drohenden Schlünden

      Sich Stufen zu neuer Helle gründen. [<<39]

      Sie lieb ich ganz und bin ihnen hold,

      Zeig ihnen im Heute poetisches Gold:

      In den Düsternissen

      Sozialer Not,

      Wo die Liebe zerrissen

      Der Schrei nach Brot,

      Wo ein Kämpfen und Kriegen ohn Unterlaß,

      Wo die Menschen spaltet ein grimmiger Haß,

      Wo allem Herzlichen, allem Schönen

      Verzweifelt entgegengellt spöttisches Höhnen:

      Da will ich dem Schönen das Wahre versöhnen.

      Im Wahren die Schönheit! so finden wir sie:

      Die uralt neue, die Poesie.

      Mit hellen Augen

      Die Schönheit saugen,

      An der keine Lüge und Schminke klebt,

      All-alles, was lebt,

      Mit Herzblut tränken

      Und aus in goldenen Schalen schenken.

      Das ist es, wonach das Junge strebt,

      Das sich enthoben den wurmigen Bänken

      Der Formelnschule und Konvention,

      Die aller Ehrlichkeit, allem Mute,

      Die allem liebsehnsüchtigen Blute

      Am Ende geworden papierener Hohn.

      Natur! Natur! Dich wollen sie singen,

      Tief ein in deine Klarheit dringen,

      Durch Wolkengrauen

      Und Nebelbrauen

      Das warme Herz der Wahrheit schauen

      Und wiedergebären in neuem Sange,

      Was unter Phrasenhülsen versteckt,

      Im Dornröschenschlafe, dornenumheckt

      Verborgen gelegen allzulange; –

      Zu neuem Lenze sei es erweckt! –

      Es muß gelingen! Ich habe gelauscht

      Wie’s auferstehungsgewaltig rauscht [<<40]

      In tausend jungen Herzen;

      Es drängt heraus, es braust ans Licht,

      Es achtet aller Feinde nicht

      Und lacht in Werdeschmerzen.

      Und wirft’s auch Blasen wirr und wild:

      Es klärt, es hellt sich doch das Bild,

      Die Farben leuchten und glühen.

      Was jetzt noch im Keimen und Schwellen ist,

      Aufbrechen wird’s in kurzer Frist,

      Zu weitem, buntem Blühen! (MM 134–137)

      Das Wort „modern“ als Schlagwort

      Mit diesen Versen wird am 13. Juli 1891 in München das Sommerfest einer Vereinigung von Künstlern und Literaten eröffnet, die sich soeben unter dem Namen „Gesellschaft für modernes Leben“ in das Vereinsregister der Stadt hat eintragen lassen. Der Verfasser ist Otto Julius Bierbaum (1865–1910), ein umtriebiger junger Autor, der ständig zwischen den Zentren der Moderne im deutschen Sprachraum, zwischen München, Berlin und Wien unterwegs ist. Er hat gerade eine neue Zeitschrift gegründet, der er den Namen „Modernes Leben“ gegeben hat, und er wird seinen Festprolog in einer Anthologie veröffentlichen, die den Titel „Moderner Musenalmanach“ trägt. Auch die „Gesellschaft für modernes Leben“ hat schon eine eigene Zeitschrift; sie heißt „Moderne Blätter“.

      Es ist unschwer zu sehen: das Wort „modern“ hat um 1890 Konjunktur. Offenbar ist es in den kulturellen Debatten der Zeit zu einem allgewaltigen Schlag- und Machtwort geworden, hat es sich ein solches Renommee erworben, daß man für seine Projekte nichts Besseres tun kann, als sie unter seiner Flagge in See stechen zu lassen. Auch Bierbaums „Sommermuse“ kann es gar nicht oft genug aussprechen: „Vom Scheitel bis zum Fuße bin ich modern, modern, modern“. Schon 1886 hat Arno Holz in seinem „Buch der Zeit“ die Parole ausgegeben: „Modern sei der Poet, modern vom Scheitel bis zur Sohle“. Modern zu sein ist die Losung all derer, die seinerzeit auf die Bühne des literarischen Lebens drängen. Mit dem Alten, mit den Traditionen und Konventionen der Kunst soll gebrochen werden, auch und gerade mit denen, die unter dem Vorzeichen des „Klassischen“ auf die Gegenwart gekommen sind; etwas Neues soll [<<41] auf den Weg gebracht werden, das sich auf nichts anderes als das „Heute“ gründet und das der Kunst einen neuen Frühling, eine neue Blüte bringen wird.

      Die Forderung nach einem Neubeginn in der Kunst

      In diesem Sinne steht der Wille zum Modernsein, steht ein programmatischer Modernismus am Beginn der modernen Literatur in Deutschland. Er weiß sich bereits mit großer Bestimmtheit zu bekunden, noch bevor eine Literatur Gestalt angenommen hat, die den Namen modern wirklich verdient, die mit neuen Themen und Formen aufwarten kann. Auch Bierbaums Verse klingen ja noch recht konventionell; es sind Verse, wie man sie aus der liedhaften Lyrik kennt, wenn sie sich auch bereits der Liedstrophe entledigt haben. Und überhaupt: wer seine Worte noch einer Muse in den Mund legt, der hat sich vom „Klassischen“ noch nicht allzu weit entfernt. Was dem programmatischen Modernismus seine Selbstsicherheit verleiht, sind zunächst noch keine eigenen Leistungen, ist nicht mehr als die Überzeugung, daß die alte Kunst und Literatur abgewirtschaftet habe, daß mit ihr in der „neuen Zeit“ nicht mehr viel anzufangen sei und daß deshalb mit ihr gebrochen werden müsse.

      Dieses Pathos des Neuanfangs ist nun in der Tat etwas Neues, und zwar etwas völlig Neues, etwas, das es so in der Geschichte der Kunst noch nicht