Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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den Vorgängern Geschaffene weiterzuentwickeln, es zu überbieten, mit anderem zu verbinden oder in eine Richtung zu treiben, an die noch niemand gedacht hat. Nun will man ganz und gar mit der Überlieferung brechen, will man eine „Stunde Null“ herbeiführen, die alle ältere Kunst aus dem Blick entfernt und einen völligen Neubeginn möglich macht.

      Zur Geschichte des Begriffs „modern“

      Der Begriff, um den sich das Streben nach dem voraussetzungslos Neuen kristallisiert, der der Modernität, ist selbst freilich alles andere als neu; immerhin erfährt er nun eine Um- und Neudeutung, die durchaus aufschlußreich für die Veränderungen an der Schwelle zur Moderne ist. Das Wort „modern“ ist eine Schöpfung bereits des Mittelalters, ein Kunstwort mittelalterlicher Theoriebildung, abgeleitet vom lateinischen „modo“, zu deutsch „eben, gerade, vor kurzem“, [<<42] und eingeführt als Gegenbegriff zu lateinisch „antiquus“, deutsch „einstig, früher, alt, altertümlich“. Dementsprechend begegnet es durch die gesamte Neuzeit hindurch und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fast ausschließlich als Teil der Dichotomie antik – modern, wie sie vor allem dazu diente, die Kultur des neuzeitlichen Europa mit der der alten Griechen und Römer zu vergleichen. Seit der Renaissance, seit den Zeiten des frühneuzeitlichen Humanismus hat dieses Europa seine eigenen Möglichkeiten ja in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft der Antike entwickelt, in allen Bereichen der Kultur, ganz besonders aber in Kunst und Literatur.

      So bildet das Begriffspaar antik – modern etwa das Rückgrat jener europaweiten Debatte, die von 1670 bis 1830, von der französischen Klassik bis zur deutschen Klassik und Romantik, alles Nachdenken über Literatur bestimmte, der „Querelle des Anciens et des Modernes“, des Streits zwischen denen, die die Kunst und Kultur der Antike für unübertrefflich hielten, und denen, die den Werken der Neuzeit eigentümliche, besondere Qualitäten zusprachen, von denen die Antike noch nichts gewußt habe. Beide Parteien zielten mit ihren Überlegungen freilich gleichermaßen auf eine Literatur, die sich an antiken Vorbildern schulte; auch die „Modernes“ konnten und wollten sich eine Literatur noch nicht vorstellen, die gar nichts von den Alten hätte, die nichts als modern und dennoch große Kunst und schön wäre.

      Das ändert sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar zunächst in Frankreich, im Kreis um Charles Baudelaire (1821–1867), wovon gerade dessen Umgang mit dem Begriff „modern“ Zeugnis ablegt. Baudelaire gilt weithin als der erste moderne Dichter, wohl zu Recht, jedenfalls soweit sich eine historische Entwicklung wie der Übergang zur Moderne an einer einzelnen Person festmachen läßt. Bei ihm beginnt der Aufstand gegen den Historismus und den Kult der Klassik, der seinerzeit wie in Deutschland, so in den meisten Ländern Europas die Szene beherrschte, beginnt die Abkehr von dem, was er „Eklektizismus“ nennt. In diesem Zusammenhang macht er von dem Begriff des Modernen auf eine Weise Gebrauch, über der er sich mehr und mehr von seinem altgedienten Pendant „antik“ löst und eine von diesem unabhängige, eigenständige Bedeutung annimmt – ein [<<43] markantes Indiz dafür, daß die Literatur allmählich aufhört, sich über den Bezug zum Erbe der Antike zu definieren.15

      „Il faut être absolument moderne“,16 heißt es bald schon bei Arthur Rimbaud (1854–1891), einem Autor aus der Schule von Baudelaire. Der Künstler der Gegenwart soll absolut modern sein, nicht nur relativ modern, nicht nur modern im Vergleich mit dem Erbe der Antike und den Begriffen von Kunst und Schönheit, die in ihm beschlossen sind. Die Literatur soll sich ohne Wenn und Aber auf den Boden der modernen Welt stellen, soll ihre Themen und Formen ausschließlich im Blick auf die Gegenwart entwickeln und aufhören, nach der Kunst der Vergangenheit zu schielen, sich an deren Vorstellungen von Kunst und Schönheit zu messen. In eben diesem Sinne heißt es dann auch bei Bierbaum:

      Will mich in gar nichts Vergangnes bequemen,

      Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,

      Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.

      Von Renaissancen zu Avantgarden

      Uns sind diese Vorstellungen inzwischen bestens vertraut, ja sie sind bis heute so selbstverständlich geworden, daß wir zu der Annahme neigen, alle Kunst sei seit jeher darauf ausgegangen, mit Traditionen und Konventionen zu brechen, die Macht der Gewohnheit auszuhebeln und die überkommenen Formen zu sprengen. Doch das ist keineswegs der Fall; der Ruf der ersten Modernen nach einem radikalen Neuanfang ist seinerzeit etwas durchaus Neues gewesen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis zur Klassik und zu deren Epigonen sind es vor allem Renaissancen, die den Entwicklungsgang von Kunst und Literatur bestimmen, ist es wesentlich eine immer wieder neu und [<<44] anders in Angriff genommene Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike, wodurch Neues in die Welt kommt, und seit der Präromantik des 18. Jahrhunderts dann zusätzlich auch noch die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Mittelalters. Nun beginnen Avantgarden die entscheidenden Impulse zu setzen, Bewegungen, deren Protagonisten gerade nicht mehr zurückschauen und das Gespräch mit den Größen der Vergangenheit suchen, die vielmehr „absolut modern“ sein wollen, die mit der Vergangenheit brechen und einzig von den Gegebenheiten der modernen Welt aus Neues schaffen wollen. In der Moderne sind es nicht mehr Renaissancen, sondern Avantgarden, die den Gang der Dinge bestimmen.

      2.1.2 Kritik am Epigonentum

      Deutschland im Bann der Modernisierung

      Daß sich die Generation, die in den achtziger, neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Bühne der Literatur betrat, einem solchen programmatischen Modernismus verschrieb, ist unschwer zu verstehen. Deutschland erlebte im letzten Drittel des Jahrhunderts, in den sogenannten Gründerjahren, einen Modernisierungsschub, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte; damals sprach man freilich noch nicht von Modernisierung, sondern von Fortschritt. Die Wissenschaften entwickelten sich auf eine Weise, die es ihnen erlaubte, mit einer ständig wachsenden Zahl von Entdeckungen und Erkenntnissen aufzuwarten und von ihnen aus an das Zeichnen eines neuen Welt- und Menschenbilds zu gehen. Zugleich schufen sie mit ihren Neuerungen die Grundlage für eine Ingenieurskunst, die auf breiter Front den Übergang zur technisch-industriellen Produktionsweise ins Werk setzte und damit nicht nur der Arbeitswelt, sondern sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein neues Gesicht gab. Ja es bildeten sich nun völlig neue Lebensräume heran, so zum Beispiel die Welt der modernen Großstadt. Und das Verkehrs- und Kommunikationswesen wuchs in eine Dimension hinein, die über den gewohnten Lebensräumen den Horizont der Globalisierung aufgehen ließ. Die ganze Welt schien eine andere zu werden, nur die Kunst schien so weitermachen zu wollen wie bisher, schien sich weiterhin in den Bahnen bewegen zu wollen, die ihr durch die Traditionen der abendländischen Kunst vorgezeichnet waren. [<<45]

      Literatur zwischen Klassik und Moderne

      Zwar gab es seit den fünfziger Jahren schon eine Literatur, die sich zum Realismus bekannte, und das war eine Literatur, die sich bewußt in der Gegenwart, auf dem Boden der modernen Welt angesiedelt hatte. Doch hatte man deshalb nicht aufgehört, auf die Goethezeit zurückzublicken, ja in gewisser Weise war deren Literatur präsenter denn je, galt sie inzwischen doch allgemein als klassisch, und das heißt: als unübertreffliches, in alle Zukunft unentbehrliches Vorbild aller wahren Kunst. Das aber bedeutete, daß das literarische Leben auch zu Zeiten des Realismus noch immer im Bann der abendländischen Kunsttradition stand. Die Literatur der Goethezeit hatte sich ja wesentlich in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition entwickelt, hatte insbesondere noch immer auf den Dialog mit der Antike gesetzt; wer sich an ihr orientierte, blieb mithin ein Gefangener der Überlieferung.

      Auch den Realisten selbst war es nicht wirklich gelungen, aus dem Bannkreis der Tradition herauszutreten, denn auch sie begriffen sich noch immer als „Epigonen“ der „Goetheschen Kunstperiode“ (Heine), als Nachgeborene, die den großen Vorgängern nicht das Wasser reichen könnten. Und das hatte zur Folge – so sahen es jedenfalls die Modernen – daß sie immerzu auf Kompromisse zwischen den Anforderungen der Gegenwart und der überkommenen Kunstübung ausgingen, Kompromisse, die, wie den Modernen schien, der Literatur nicht recht bekommen waren, faule Kompromisse, die es weder erlaubt hatten, der modernen Welt schonungslos ins Auge zu sehen, noch die Schönheit der alten Kunst wiederzubringen, so daß Wahrheit und Schönheit gleichermaßen auf der Strecke geblieben waren.

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