Arthur Schnitzler

Casanovas Heimfahrt


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zu widmen beabsichtige. Sie erwiderte, daß sie auf dem Land überhaupt nicht regelmäßig zu arbeiten pflegte, doch könne sie›s nicht hindern, daß gewisse mathematische Probleme, mit denen sie sich eben beschäftigte, ihr auch in den Ruhestunden nachgingen, wie es ihr eben jetzt begegnet sei, während sie auf der Wiese gelegen war und zum Himmel aufgesehn hatte. Doch als Casanova, durch ihre Freundlichkeit ermutigt, sich scherzend erkundigte, was denn dies für ein hohes und dabei so zudringliches Problem gewesen sei, entgegnete sie etwas spöttisch, es habe keineswegs das allergeringste mit jener berühmten Kabbala zu tun, in der der Chevalier von Seingalt, wie man sich erzähle, Bedeutendes leiste, und so würde er kaum viel damit anzufangen wissen. Es ärgerte ihn, daß sie von der Kabbala mit so unverhohlener Ablehnung sprach, und obwohl ihm selbst, in den freilich seltnen Stunden innerer Einkehr, bewußt war, daß jener eigentümlichen Mystik der Zahlen, die man Kabbala nennt, keinerlei Sinn und keine Berechtigung zukäme, daß sie in der Natur gewissermaßen gar nicht vorhanden, nur von Gaunern und Spaßmachern – welche Rolle er abwechselnd, aber immer mit Überlegenheit gespielt – zur Nasführung von Leichtgläubigen und Toren benutzt würde, so versuchte er jetzt doch gegen seine eigne bessre Überzeugung Marcolina gegenüber die Kabbala als vollgültige und ernsthafte Wissenschaft zu verteidigen. Er sprach von der göttlichen Natur der Siebenzahl, die sich so schon in der Heiligen Schrift angedeutet fände, von der tiefsinnig-prophetischen Bedeutung der Zahlenpyramiden, die er selbst nach einem neuen System aufzubauen gelehrt hatte, und von dem häufigen Eintreffen seiner auf diesem System beruhenden Voraussagen. Hatte er nicht erst vor wenigen Jahren in Amsterdam den Bankier Hope durch den Aufbau einer solchen Zahlenpyramide veranlaßt, die Versicherung eines schon verloren geglaubten Handelsschiffes zu übernehmen und ihn dadurch zweimalhunderttausend Goldgulden verdienen lassen? Noch immer war er so geschickt im Vortrag seiner schwindelhaft geistreichen Theorien, daß er auch diesmal, wie es ihm oft geschah, an all das Unsinnige zu glauben begann, das er vortrug, und sogar mit der Behauptung zu schließen sich getraute, die Kabbala stelle nicht so sehr einen Zweig als vielmehr die metaphysische Vollendung der Mathematik vor. Marcolina, die ihm bisher sehr aufmerksam und anscheinend ganz ernsthaft zugehört hatte, schaute nun plötzlich mit einem halb bedauernden, halb spitzbübischen Blick zu ihm auf und sagte: »Es liegt Ihnen daran, mein werter Herr Casanova« (sie schien ihn jetzt mit Absicht nicht »Chevalier« zu nennen), »mir eine ausgesuchte Probe von Ihrem weltbekannten Unterhaltungstalent zu geben, wofür ich Ihnen aufrichtig dankbar bin. Aber Sie wissen natürlich so gut wie ich, daß die Kabbala nicht nur nichts mit der Mathematik zu tun hat, sondern geradezu eine Versündigung an ihrem eigentlichen Wesen bedeutet; und sich zu ihr nicht anders verhält als das verworrene oder lügenhafte Geschwätz der Sophisten zu den klaren und hohen Lehren des Plato und des Aristoteles.« – »Immerhin«, erwiderte Casanova rasch, »werden Sie mir zugeben müssen, schöne und gelehrte Marcolina, daß auch die Sophisten keineswegs durchaus als so verächtliche und törichte Gesellen zu gelten haben, wie man nach Ihrem allzu strengen Urteil annehmen müßte. So wird man – um nur ein Beispiel aus der Gegenwart anzuführen – Herrn Voltaire seiner ganzen Denk- und Schreibart nach gewiß als das Muster eines Sophisten bezeichnen dürfen, und trotzdem wird es niemandem einfallen, auch mir nicht, der ich mich als seinen entschiedenen Gegner bekenne, ja, wie ich nicht leugnen will, eben damit beschäftigt bin, eine Schrift gegen ihn zu verfassen, auch mir fällt es nicht ein, seiner außerordentlichen Begabung die gebührende Anerkennung zu versagen. Und ich bemerke gleich, daß ich mich nicht etwa durch die übertriebene Zuvorkommenheit habe bestechen lassen, die mir Herr Voltaire bei Gelegenheit meines Besuchs in Ferney vor zehn Jahren zu erweisen die Güte hatte.«– Marcolina lächelte. »Das ist ja sehr hübsch von Ihnen, Chevalier, daß Sie den größten Geist des Jahrhunderts so milde zu beurteilen die Gewogenheit haben.« – »Ein großer Geist – der größte gar?« rief Casanova aus. »Ihn so zu nennen, scheint mir schon deshalb unstatthaft, weil er bei all seinem Genie ein gottloser Mensch, ja geradezu ein Gottesleugner ist. Und ein Gottesleugner kann niemals ein großer Geist sein.« – »Meiner Ansicht nach, Herr Chevalier, bedeutet das durchaus keinen Widerspruch. Aber Sie werden vor allem zu beweisen haben, daß man Voltaire einen Gottesleugner nennen darf.« —

      Nun war Casanova in seinem Element. Im ersten Kapitel seiner Streitschrift hatte er eine ganze Menge von Stellen aus Voltaires Werken, vor allem aus der berüchtigten ›Pucelle‹ zusammengetragen, die ihm besonders geeignet schienen, dessen Ungläubigkeit zu beweisen; und die er nun dank seinem vorzüglichen Gedächtnis, zusammen mit seinen eigenen Gegenargumenten, wörtlich zu zitieren wußte. Aber in Marcolina hatte er eine Gegnerin gefunden, die ihm sowohl an Kenntnissen wie an Geistesschärfe wenig nachgab und ihm überdies, wenn auch nicht an Redegewandtheit, so doch an eigentlicher Kunst und insbesondre an Klarheit des Ausdrucks weit überlegen war. Die Stellen, die Casanova als Beweise für die Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit Voltaires auszulegen versucht hatte, deutete Marcolina gewandt und schlagfertig als ebenso viele Zeugnisse für des Franzosen wissenschaftliches und schriftstellerisches Genie, sowie für sein unermüdlich heißes Streben nach Wahrheit, und sie sprach es ungescheut aus, daß Zweifel, Spott, ja daß der Unglaube selbst, wenn er mit so reichem Wissen, solch unbedingter Ehrlichkeit und solch hohem Mut verbunden sei, Gott wohlgefälliger sein müsse als die Demut des Frommen, hinter der sich meist nichts andres verberge, als eine mangelhafte Fähigkeit, folgerichtig zu denken, ja oftmals – wofür es an Beispielen nicht fehle – Feigheit und Heuchelei.

      Casanova hörte ihr mit wachsendem Staunen zu. Da er sich außerstande fühlte, Marcolina zu bekehren, um so weniger, als er immer mehr erkannte, wie sehr eine gewisse schwankende Seelenstimmung seiner letzten Jahre, die er als Gläubigkeit aufzufassen sich gewöhnt hatte, durch Marcolinens Einwürfe sich völlig aufzulösen drohte, so rettete er sich in die allgemein gehaltene Betrachtung, daß Ansichten, wie Marcolina sie eben ausgesprochen, nicht nur die Ordnung im Bereich der Kirche, sondern daß sie auch die Grundlagen des Staates in hohem Grade zu gefährden geeignet seien, und sprang von hier aus gewandt auf das Gebiet der Politik über, wo er mit seiner Erfahrung und Weltläufigkeit eher darauf rechnen konnte, Marcolinen gegenüber eine gewisse Überlegenheit zu zeigen. Aber wenn es ihr hier auch an Personenkenntnis und Einblick in das höfisch-diplomatische Getriebe gebrach und sie darauf verzichten mußte, Casanova im einzelnen zu widersprechen, auch wo sie der Verläßlichkeit seiner Darstellung zu mißtrauen Neigung verspürte; – aus ihren Bemerkungen ging unwidersprechlich für ihn hervor, daß sie weder vor den Fürsten dieser Erde noch vor den Staatsgebilden als solchen sonderliche Achtung hegte und der Überzeugung war, daß die Welt im Kleinen wie im Großen von Eigennutz und Herrschsucht nicht so sehr regiert, als vielmehr in Verwirrung gebracht werde. Einer solchen Freiheit des Denkens war Casanova bisher nur selten bei Frauen, bei einem jungen Mädchen gar, das gewiß noch keine zwanzig Jahre zählte, war er ihr noch nie begegnet; und nicht ohne Wehmut erinnerte er sich, daß sein eigener Geist in vergangenen Tagen, die schöner waren als die gegenwärtigen, mit einer bewußten und etwas selbstzufriedenen Kühnheit die gleichen Wege gegangen war, die er nun Marcolina beschreiten sah, ohne daß diese sich ihrer Kühnheit überhaupt bewußt zu werden schien. Und ganz hingenommen von der Eigenart ihrer Denk- und Ausdrucksweise vergaß er beinahe, daß er an der Seite eines jungen, schönen und höchst begehrenswerten Wesens einherwandelte, was um so verwunderlicher war, als er sich mit ihr ganz allein in der nun völlig durchschatteten Allee, ziemlich weit vom Wohnhaus, befand. Plötzlich aber, sich in einem eben begonnenen Satz unterbrechend, rief Marcolina lebhaft, ja wie freudig aus: »Da kommt mein Oheim!«… Und Casanova, als hätte er Versäumtes nachzuholen, flüsterte ihr zu: »Wie schade. Gar zu gerne hätte ich mich noch stundenlang mit Ihnen weiter unterhalten, Marcolina!« – Er fühlte selbst, wie während dieser Worte in seinen Augen die Begier von neuem aufzuleuchten begann, worauf Marcolina, die in dem abgelaufenen Gespräch in aller Spöttelei sich fast zutraulich gegeben, sofort wieder eine kühlere Haltung annahm, und ihr Blick die gleiche Verwahrung, ja den gleichen Widerwillen ausdrückte, der Casanova heute schon einmal so tief verletzt hatte. Bin ich wirklich so verabscheuungswürdig? fragte er sich angstvoll. Nein, gab er sich selbst zur Antwort. Nicht das ist›s. Aber Marcolina – ist kein Weib. Eine Gelehrte, eine Philosophin, ein Weltwunder meinethalben – aber kein Weib. – Doch er wußte zugleich, daß er sich so nur selbst zu belügen, zu trösten, zu retten versuchte, und daß diese Versuche vergeblich waren. Olivo stand vor ihnen. »Nun«, meinte er zu Marcolina, »hab› ich das nicht gut gemacht, daß ich dir endlich jemanden ins Haus gebracht habe, mit dem