kleinen Reich geradeso wie jenen großen, die recht behaglich im Faulleben dahinvegetieren, solange sie nicht mit tätigeren Nachbarn in Berührung kommen, die aber, sobald ein jugendlicher Rivale lebendig sie zu rütteln beginnt, sich aus ihrer verdrossenen Ruhe aufraffen und ihre fünf Sinne zusammennehmen müssen, wenn sie nicht zuletzt über den Haufen gerannt werden wollen.
Die Uhr zeigte fünf, die Reisenden näherten sich dem ersehnten Ziel. Der Dampfer machte bei höchstem Druck zwölf Meilen in der Stunde, er brauste flußaufwärts. Pflanzung um Pflanzung blieb hinter ihm. Luise Howard war zum Kind geworden, denn jedes Haus, jede Pflanzung war ihr bekannt, kaum eine, wo sie nicht zum Ball geladen war, getanzt hatte. Sie erzählte Julie Doughby, Julie ihr. Vor allen Veranden waren Gesichter, die sie erkannten und ihre Freude durch laute Zurufe, durch Händeklatschen und Schwenken der Taschentücher zu erkennen gaben.
Auf einmal wurden die beiden Schwestern gespannt. Ihre Blicke hafteten auf den mit Immergrün-Eichen bekrönten Hügeln, die sich über den Flußufern wölbten und sich in den roten Fluten spiegelten.
»Dort, ja dort ...!« Julie stockte, unfähig ein Wort mehr hervorzubringen.
»Da ist unser Hafen!« flüsterte Luise mit vor Freude erstickter Stimme.
Howard hatte den Arm um sie gelegt, sie zitterte vor Aufregung. Noch eine Pflanzung, von der eine Begrüßung herübergerufen wurde, aber weder Luise noch Julie sahen oder hörten.
Der Drang, das Vaterhaus zu sehen, erfüllte ihre kindlichen Seelen.
»Maman, Papa — was werden sie jetzt tun?« schluchzte Julie.
»Sie denken an uns!« erwiderte Luise mit glänzenden Augen.
»Ralph, sieh nur!« Julie stieß ihren Mann an. »Hinter dieser Baumgruppe!«
»Was ist hinter dieser Baumgruppe?«
»Der Hafen, das Vaterhaus!« rief Julie.
»Da sind wir also am Ziel! Wohl und gut!«
Luise warf dem Schwager einen seltsamen Blick zu, wandte sich dann von ihm weg und schaute die Schwester teilnehmend sinnend an. Sie schmiegte sich näher an Howard, als wollte sie sich recht weit von Doughby zurückziehen.
»Aber was ist, was soll das?« rief dieser verblüfft.
Die beiden Schwestern sahen ihn abermals an, ihre Lippen zuckten, aber kein Wort kam von ihnen. Howard stand ein wenig betroffen. Denn so wenig der Mangel an Gefühl bei Anglo-Amerikanerinnen geschmerzt hätte, hier hatte er verletzt. Die beiden Frauen waren dem Geblüt nach Französinnen, die lebhafter fühlten, und Howard besorgte, sie hatten an Doughby eine Entdeckung gemacht, die dem Kentuckier fatal werden konnte, die Entdeckung einer gewissen Gemeinheit, einer Gemütsöde. Bereits war etwas wie Widerwille auf ihren hübschen Gesichtern zu lesen.
Woher kommt doch dieses feine Gefühl bei Weibern, das bei weit weniger Scharfblick, als wir Männer haben, um so viel tiefer eindringt, fragte sich Howard. Liegt es im zarteren organischen Bau, im reizbareren Nervensystem, das jeden rauheren Anklang lebhafter in ihnen schwingen macht, ihre Gemüter stärker durchschauert? Oder im feineren Takt der durch Leidenschaften nicht getrübten Anschauung? Oder dem natürlichen Widerwillen gegen alles, was gemein, gefühllos ist? Sicher ist es, daß dieser zarte Takt, diese sensitive Reizbarkeit bei Frauen, die reinen, unbefleckten Herzens sind, stark hervortritt und daß jeder rauhere Anklang in ihrem ganzen organischen System stärker nachhallt als bei uns Männern, zwar wieder verklingt, aber doch Spuren hinterläßt.
»O George!« flüsterte Luise ihm mit weicher Stimme zu. »Arme Julie!«
»Nicht doch, Luise! Nicht doch, Julie!« wehrte Howard ab. »Laßt keine Regenschauer den heiteren Himmel eures Ehelebens trüben!«
Und Doughby ergriff die Hand seiner Frau und sah ihr fest fragend in die Augen. Sie schlug den Blick zu ihm auf, das flüchtige Wölkchen am heiteren Horizont schien schwinden zu wollen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Aber beachtenswert dürfte es immer sein, dieses Wölkchen ließ vielleicht doch einen leichten Dunst zurück. Wie der Hauch, der am blank polierten Stahl hinaufgleitet, verschwand es. Wenn aber der Hauch öfters kommt, setzt er jenen Rost an, den Rost des trostlosen Bewußtseins eines verfehlt angeknüpften Daseins, getäuschter Hoffnung, verdorbenen Lebensglücks.
»Maman!« riefen die beiden Schwestern und winkten zum Ufer.
Der Dampfer rundete dem Landungsplatz zu, alles war vergeben, vergessen. Luise konnte kaum die Zeit abwarten, bis die Bretter ans Ufer fielen. Sie sprang voran, zog Julie hinterdrein, und dann flogen beide ihrer geliebten Maman zugleich in die Arme.
Wie so ganz anders sie hier doch fühlten als die Nordländerinnen! Mutter und Töchter preßten sich, als wollten sie ineinander verwachsen, nimmer sich trennen, so stürmisch, herzinnig! Endlich sprang Luise zurück, erfaßte Howard beim Arm und zog ihn mit tränenden Augen der lieben Maman zu. In diesem Augenblick kam auch der Papa, der hinter einem klafterdicken Cottonbaum Verstecken gespielt, hervorgerannt. Luise sah ihn kaum, so rannte sie auf ihn zu.
»Mechant que tu es, Papa!«
Sie zog den guten Mann gleichfalls der lieben Maman zu. Dampfschiff und Zuschauer waren für sie gar nicht vorhanden. Mittlerweile kam auch Doughby heran. Er rief den beiden Schwiegereltern auf ihrem eigenen Grund und Boden ein Willkommen zu und drückte ihnen lachend die Hand, daß beide aufschrien über den Kentuckierscherz. Maman griff zu ihrem Riechfläschchen, denn er roch stark nach Toddy, Mischung von Spirituosen mit Zucker und Zitronen der unglückselige Doughby.
Nach den ersten Begrüßungen führte Papa Menou seine Gäste zum Wagen, einer eleganten Berline, Ein zuerst in Berlin hergestellter viersitziger Reisewagen mit zurückschlagbarem Verdeck mit zwei raschen Rappen bespannt. Alle packten sich in die alte Familienkarosse ein, samt Nachtsäcken, Koffern und Schachteln. Mutwillig und fröhlich hätschelte Luise bald die Maman, bald den Papa. Bald schmollte sie Cato, der ihr zu langsam fuhr, und der Schwarze bleckte vor Freude die Zähne. Alle redeten zugleich, es war ein kleines Babel, dieser Kasten während der zehn Minuten Fahrt.
Doch siehe da! Luise hielt auf einmal inne, fuhr mit der Hand über die Stirn. Wahrhaftig, eine Träne!
»Was fällt dir auf einmal ein, Luise?«
Sie gab keine Antwort, deutete nur mit dem Finger aus dem Wagen hinaus. Zwischen dem Kranz von Akazien und Baumwollbäumen, die es von mehreren Seiten umringten, schimmerte das Vaterhaus hervor. Eine Pause entstand, während der Vater und Mutter bewegt das von süßer Wehmut gedrängte Kind anschauten.
»Luise!« sagte Howard sanft.
Sie gab keine Antwort, aber sie starrte das Vaterhaus an mit seinen malerischen Giebeln und seinem architektonischen Wirrwarr. Ja, sie betrat das Haus zum ersten Male wieder, seit sie es gegen das ihres Mannes vertauscht hatte. Es stand abermals vor ihr. Wie der Baum der Erkenntnis rückte es ihr die Vergangenheit vor die Augen, die Gegenwart, die Zukunft. Jene Tage, wo sie heiter und grün, eine unentfaltete Knospe, am blumigen Gängelband elterlicher Fürsorge umherschwirrte, keine Sorgen kannte als die, wie der Schmetterling von einem unschuldigen Genuß zum anderen zu flattern! Und nun die Gegenwart mit ihren Plackereien des Alltagslebens und seinen Mühen und Lasten, die sie ihrem Gatten, tragen half! Und die graue Zukunft, im düsteren Nebelvorhang verschleiert! Alles das stand vor ihr, und die Erkenntnis, ob sie gut oder böse gewählt habe, stand auch vor ihr, in diesem Augenblick wie ein Schild auf das Vaterhaus geschrieben. Dieser Augenblick sagte ihr, sagte Howard, ob er sie, ob sie ihn glücklich machte.
Howard schaute sie bewegt, ängstlich an.
Ihre in Tränen schwimmenden Augen hingen noch immer in stiller Wehmut am Vaterhaus, an jeder Hütte, jedem Baum, der in ihren Gesichtskreis trat. Jetzt fielen sie auf Howard. Ein freudiges Blitzen durchzuckte sie, sie drückte seine Hand, sank ihm in die Arme.
»George!«
»Luise! Bedauerst du, das Vaterhaus verlassen zu haben?« fragte er leise.
»Nein! Nein!« flüsterte sie.
»Danke dir!«