Jeremias Gotthelf

Leiden und Freuden eines Schulmeisters


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      Man sieht und sah immer eine Menge Kinder, die sich um ihre Eltern nicht bekümmern, sie gefühllos dem Elend überlassen, als ob dieselben sie nichts angingen, sie ihnen gar nichts schuldig wären, und es wurden und werden immer Kinder verdammt, die wie des Waldes wildes Tier ihren Erzeugern vor dem Munde weg das Essen stehlen, wenn sie die stärkern geworden sind.

      Und es ist allerdings kein häßlicheres Geschöpf als so ein aufgeputztes Ding, das all sein Hab und Gut an ein paar silberne Häfte, ein Fürtuch oder an einige Mänteli gewandt und Händschli an hat; dessen Mutter barfuß läuft und an der Thüre bettelt, innert welcher ihr Meitschi prächtlet und Buben Wein zahlt. Wenn so ein Meitschi, das eine ganze Samstagnacht nicht schlafen kann aus freudiger Erwartung, was wohl die ganze Welt zu dem Tschöpli und zu den breiten Haarschnüren sagen werde, mit welchen es am Sonntag aufzuziehen gedenkt und nicht zweifelt an gutem Schick und hoffet für eine Baurentochter sich ausgeben zu können; — wenn so ein Meitschi, sage ich, wüßte, wie die Welt mit Fingern auf ihns zeigt und sagt: »Die ma wohl, mr hei ihrer Mueter erst gester ds Almuese gä!« — es würde sich wohl schämen und weniger an die Sache thun. Und so ein Bürschli, dem am Sonntag kein Weg breit genug ist, das seine Sackuhr spienzlet und ganze Wolken Rauch aus seiner Tabakspfeife bläst, Mädchen schryßt und Wein zahlt und Weggen frißt wie ein Wolf und nur meint, er allein sei groß und mache sich g‘estimiert; — wenn dieses Bürschchen wüßte, wie man ihns verachtet und wie man wohl weiß, daß sein Vater läng Zyt kein Brot hat, auf Hudlen schläft, Schwefelholz verkauft und dr Gottswille z‘esse heuscht, — es würde zu Hause bleiben und seine Kreuzer sparen, um seinem Vater die Kutte blätzen zu lassen.

      So laufen allerdings eine Menge Kinder von ihren Eltern weg, sobald sie vom Herren sind; bekümmern sich um die Eltern nicht nur nichts, ds Gunträri sie nehmen noch von ihnen was sie können. Sie verthun ihre Löhnli mit Hoffahrt und Hudlen und lassen schamlos der Gemeinde die Eltern zur Last fallen. Fremde müssen an diese Eltern wenden, was sie mit saurem Schweiß aufbringen mögen, während die Kinder sich den Buckel voll lachen und sagen: es thuet ne ‚s sauft, dene D —. Und wenn so ein hungriger Vater oder eine frierende Mutter Stunden weit die matten Beine schleppt, in der Hoffnung, von Sohn oder Tochter, denen man keinen Mangel ansieht, etwas zu einem guten Tag zu erhaschen, so verschämen sich die Kinder, verleugnen die Eltern oder fertigen sie mit schnödem Bescheid ab, daß sie merken, wie unwert sie gekommen und das Wiederkommen sie nicht wieder gelüstet. Schon manche Meisterfrau hat sich einer alten Mutter erbarmet, welche die eigene Tochter puckt fortgewiesen hätte. Was meint man wohl, wenn ein so abgefertigter Alter mit seinen schlotternden Gliedern kaum heimzukommen vermag, was für Gebete für sein Kind wird sein Herz auf seine Zunge legen, welcher Segen kömmt über die brummenden Lippen? Andere Kinder bleiben bei ihren Eltern, aber nur um sie auszusaugen und sie auf die Gemeinde zu bringen, und gar mancher Vater kann husen, so lange die Kinder klein sind; sobald diese aufgewachsen sind, kömmt er in die Armut. Was sie verdienen, brauchen sie für sich; was er verdient, soll er mit allen teilen, soll dafür alles anschaffen, und reicht das nicht hin, behält er nichts für sich, so bekümmert sich keins der Kinder darum. Da kann der Alte zusehen, und mag er nicht mehr gfahren, so lassen sie ihn im Stich und die Gemeinde kann zusetzen und zuschießen.

      Also selbstsüchtige unkindliche Kinder gibt es in großer Menge, die ihren Eltern nicht zur Stütze, sondern zum Schaden herangewachsen sind, Kinder, die ihnen nicht Trost geben, sondern Schmerz bereiten. Aber bleiben wir nicht blos bei dieser Erscheinung stehen, sondern denken wir tiefer nach und forschen wir nach den Gründen dieser Erscheinung, nach den Gründen, warum so viele Eltern von ihren Kindern hintangesetzt und schnöde behandelt werden, — dann werden wir finden, daß nicht alle Schuld bei den Kindern zu finden ist, sondern daß viele Eltern den größten Teil derselben tragen.

      Betrachten wir das Betragen der Kinder, so ist es dasjenige, welches allen Tieren gemein ist. Ein alt schön Lied sagt, der Mensch sei halb Tier halb Engel, d. h. als Tier wird er geboren, ein Engel soll er werden. Dazu besitzt er die Anlagen, dazu hilft ihm Gott, dazu beruft ihn das Christentum. Aus dem Tier muß sich der Engel herauskämpfen, wie aus der Puppe der Schmetterling sich entfaltet. Das Beginnen dieses Ringens oder das Trachten nach dem was droben ist, das, so lange der Mensch im Leibe lebt, kein Ende nimmt, bloß rüstiger und freudiger wird, nennt Christus die Wiedergeburt, Paulus: Absterben des alten, Auferständnis des neuen Menschen. Zu diesem Ringen, zu einem werdenden Engel das tierisch (in der Erbsünde) geborne Kindlein zu erziehen, verpflichtet sich der christliche Vater in der Taufe, und unchristlicher Unverstand, kirchlicher Unsinn ist‘s, wenn in einem christlichen Staate diese Verpflichtung tierisch gebliebenen oder aberwitzig gewordenen Vätern erlassen wird. Aus der Selbstsucht geht des Tiers Leben hervor; im Engel lebt die Liebe, sie tritt aus ihm heraus und wird die Mutter seines Thuns.

      Nun lebt leider in einer Menge von Eltern nur noch das Tier; der Engel in ihnen weint ohnmächtig, die Selbstsucht drückt ihrem ganzen Betragen ihr Siegel auf, auch dem Betragen gegen ihre Kinder. Von einer höheren Bestimmung des Menschen haben sie gar keinen Begriff und noch weniger davon, daß man diese Bestimmung teilweise schon auf Erden erfüllen müsse. Ihr Dichten und Trachten geht darauf aus, es gut zu haben auf der Welt. Zu diesem Guthaben sollen alle andern Menschen ihnen helfen, und wer sie daran stört, betrachten sie als eine Last oder als einen Feind. Kinder stören also vor allem aus ihre Behaglichkeit, ihr Guthaben, durch unruhige Nächte und geschreivolle Tage; aber Kinder kosten auch. Und wenn es auch nur täglich für einen Kreuzer Milch wäre, so muß besonders bei Armen, wo das Einkommen und Ausgeben gewöhnlich grad aufgeht, dieser Kreuzer an einem Orte erspart werden, entweder am Kaffee der Frau oder an den Schoppen des Mannes. Kinder sind oft eine Last, und je mehr Kinder, desto größer und fühlbarer wird sie.

      Nun herrscht aber unter dieser Klasse von Menschen eine ganz eigene Offenheit. Da weiß man noch wenig davon, unter sich die Gefühle zu verstecken und mit erkünstelter Miene Gefühle der Zärtlichkeit und Liebe zu heucheln, wenn sie nicht da sind. Da sagt z. B. eine Tochter ganz offenherzig vor ihrem kranken Vater: Wir beten alle Tage, daß er bald sterben könne; es ginge ihm und uns wohl. Und der alte Mann nimmt das gar nicht übel, er findet es ganz natürlich; denn er ist eine Last und einer solchen wünscht man los zu sein — das weiß er aus eigener Erfahrung. So sagt ein Mann am Krankenbett seines Weibes ohne Hehl: »In Gottes Namen, wenn es muß gestorben sein, so wollte ich, es geschähe bald; es ginge ihre wohl und uns nicht übel. Unsereiner hat, weiß Gott, nicht der Zeit, immer da in der Stube zu sein; es ist gar viel zu werchen da draußen, und öpper apartigs anstellen mag man auch nicht«. Das Weib macht dabei nicht mucks, denkt vielleicht an den Kabisblätz, der gejätet werden sollte und nun wegen seiner Krankheit ungejätet bleibt, so daß es eine Schande sei für das ganze Haus und es sich noch im Tode schämen müsse deretwegen. Mit der gleichen Offenheit drücken sich die Eltern gegen ihre Kinder über die Last aus, die sie an ihnen zu haben glauben, wie ich schon vorhin von meinen Eltern bemerkt habe. »Mi isch doch e plogte Mönsch, we me Ching het; o mi weiß nit, wie wohl es eim isch, we me keni Ching het« — das sind Redensarten, die man tagtäglich in einer Menge Häuser hören kann. Diese Redensarten bleiben nicht wirkungslos beim Kinde, wenn es sich der Wirkung schon nicht bewußt ist; auf alle Fälle entbehrt es der wahrhaften Liebe, welche Liebe wecket. Doch dieses ist noch nicht die schlimmste Seite dieser elterlichen Selbstsucht, sondern das Bestreben der Eltern ist es, durch die Kinder selbst sich diese Last erleichtern zu helfen, ja es bis zum Guthaben zu bringen. Dieses selbstsüchtige Bestreben ist aber meistens eitel, und wird vereitelt durch die im Kinde erzeugte Selbstsucht. Selbstsucht aber trennt; nur Liebe ist das Band, das unauflöslich ist und Kinder zu Trost und Freude an die Eltern bindet.

      Das Bestreben der Eltern geht also sichtbarlich darauf aus, sich durch die Kinder die Last erleichtern, abnehmen zu lassen, derselben Kräfte sobald möglich zu ihrem, der Eltern Nutzen auszubeuten. Die gar beschränkten Eltern bekümmern sich gar nicht um die Ausbildung der Kräfte ihrer Kinder, überlassen dieselben durchaus sich selbst und geben sich nicht die geringste Mühe, die Kinder zu befähigen, sich mit Ehren in der Welt fortzuhelfen. Diese verschiedene Handlungsweise entspringt aus der gleichen Quelle, aus der Selbstsucht, nur galtet sie sich entweder mit der Schlauheit oder mit bestialischer Trägheit. Bei den ersten Eltern müssen die Kinder arbeiten, arbeiten oft über Vermögen, aber es ist die Arbeit eines Ochsen, eines Esels unter der Peitsche des Meisters. Die Faust oder Flüche sind Lehrmeister und zwingen zu mechanischer