sagte ruhig: »Ja, Vater! Wenn der Runotter so ein Redlicher ist, da brauch ich doch nicht zu lügen.«
Er ging. Und die Mutter in ihrer Sorge lief ihm nach und fragte draußen auf der Treppendiele: »Was ist denn los?«
»Ich kenn mich selber nicht aus. Es ist mir jäh eine Sorg ins Herz gefahren, ich weiß nicht, warum. Aber jetzt bin ich wieder ganz in Ruh.«
»Gelt, ja!« Die Mutter streichelte dem Sohn die Wange. »Was schieren dich am End die Ochsen oder Küh der Ramsauer Bauern?« Sie lachte ihren Buben an. Doch als sie zurückkam in die Stube, wo Herr Someiner nachdenklich auf und nieder schritt, sagte sie ein bißchen verdrießlich: »Allweil mußt du aus jedem Bläslein eine Blatter machen!«
»Das verstehst du nicht! Recht muß Recht sein und Unrecht ist Unrecht. Freilich, es könnt auch sein, daß ich selber mich irr. Ich hab den Hängmooser Weidbrief schon lang nimmer angeschaut. Aber ich muß das wissen —« Während dieser Worte hatte der Amtmann an einer Kerze des Deckenleuchters einen Span entzündet. Er brachte das Licht einer kleinen Laterne in Brand.
»Aber Mann! Wo willst du denn heut noch hin?«
»Hinunter in die Amtsstub, den Hängmooser Weidbrief nachlesen.«
»Da ist doch morgen auch noch Zeit dazu.«
»Unrecht soll keine Nacht überschlafen.«
Während Frau Someiner seufzend den Kopf schüttelte, nahm der Amtmann aus einem Wandkästlein des Erkers einen dicken Schlüsselbund heraus.
Drunten zu ebener Erde mußte er drei Schlösser aufsperren, am Gitter, an der Tür und an dem großen, schwer mit Eisen beschlagenen Aktenschrank der Amtsstube. Aus einem Gewirr von Papieren und Pergamenten suchte der Amtmann ein gesiegeltes Blatt heraus, den Hängmooser Almbrief. Und kaum hatte Herr Someiner beim trüben Schein der Laterne zu lesen begonnen, da ließ er im Zorn seine Faust auf das Schreibpult niederfallen. »Das ist eine Frechheit ohnegleichen!«
Hier war es seit fünfundsechzig Jahren verbrieft und gesiegelt: Auf dem Hängmoos durfte kein Käser stehen, keine feuerbare Hütte, nur ein Wetterschlupf für den Ochsenhirten, und Milchkühe durften nicht aufgetrieben werden, nur zwanzig zwiesömmerige Kalben und an mastbarem Galtvieh sechzig Ochsen.
Und nun stand wider Recht und Fug auf dem Hängmoos eine Käserhütte! Und Milchkühe wurden aufgetrieben! Wider Fug und Recht! Wohl litt das Stift keinen rasch erkennbaren Schaden dabei. Aber Recht ist Recht. Und was die Ramsauer da verübten, war unbotmäßiger Eigenwille und grobes Verbrechen wider die Hoheitsrechte des fürstlichen Stiftes. So sah es für den Amtmann Someiner aus, dem die anmaßende Willkür der Holden und Eigengütler das Leben verbitterte. Seit das Stift um der Last seiner Schulden willen gezwungen war, ein Schupflehen ums andre an vermöglich gewordene Bauern als Erbrecht zu verkaufen, wurde der Untertanen Übermut und Anspruch ärger von Jahr zu Jahr. Neben Herrenstand und Bürgertum begann sich als ein dritter Stand die Bauerschaft emporzustrecken. Schon hatten sich in der Scheffau, zu Bischofswiesen, in der Schönau, in der Gern und Ramsau die Erbrechter und Eigengütler zu Gnotschaften zusammengetan, hatten Fürständ und Sprecher gewählt. Und in den Zeiten der üblen Wirrnis, da das ganze Berchtesgadener Land an das Salzburger Erzbistum verpfändet war, hatten es die trutzbeinigen Bauernschädel durchgesetzt, daß man den Gnotschaften Wort und Vertretung im Rat der Landschaft zubilligen mußte. Und seit sie mitschreien durften, meinten sie auch mitbefehlen zu dürfen, vermaßen sich umzustoßen, was verbrieftes und gesiegeltes Recht war, und meinten ihren Trutzwillen durchsetzen zu können wider des Fürsten Gebot und Eigentum.
Was da nun wieder die Ramsauer gegen Wort und Meinung eines gesiegelten Weidebriefes verübten, war ein grobes und übermütiges crimen juris laesi. Man mußte da ein heilsames Exempel statuieren. Ohne Erbarmen! Oder Hoheit und Besitz des Stiftes mußten an solcher Anmaßung und Schröpferei verbluten.
Während Amtmann Someiner beim trüben Laternenschein das alte brüchige Pergament wieder im Schrank verwahrte, erwog er schon den Gedanken, den Ramsauern am Morgen die bewaffnete Exekution über den frechen Hals schicken und die siegelwidrig auf dem Hängmoos weidenden siebzehn Kühe pfänden und davontreiben zu lassen.
Aber der Ramsauer Richtmann Runotter? Dieser Verläßliche und Redliche? Wie kam es, daß der solch eine schreiende Rechtswidrigkeit geschehen ließ? Konnten die Ramsauer vielleicht doch ein Fähnlein der Entschuldigung aushängen? Und auf den Richtmann Runotter, der trotz schwerem Unrecht, das der Chorherr Hartneid Aschacher ihm angetan, noch immer in Treu zu Stift und Recht gestanden, mußte man verdiente Rücksicht nehmen.
Als der Amtmann zu dieser wohlmeinenden Erwägung kam, hörte er draußen auf dem Gassenpflaster den klirrenden Schritt der Stiftswache.
Er ging in den Flur, riegelte das Haustor auf und rief in die Nacht hinaus: »Höi, Wachleut!«
Die beiden Spießknechte kamen gesprungen.
»Wer ist Wachführer?«
»Ich, Gestreng Herr Amtmann, der Marimpfel.«
»Gut! Auf dich ist Verlaß. Komm herein zu mir!« Herr Someiner hob dem baumlangen Kerl, der in den Flur trat und mit dem Spieß salutierte, die kleine Laterne gegen das Gesicht. Im Lichtschein funkelten des Knechtes Armschienen, die Brustplatten und der blanke Eisenhut, der mit zerzauster Feder über einem verwitterten, von Narben durchrissenen Bartgesichte saß. Der Amtmann sagte: »Um Mitternacht laß dich ablösen und vergönn dir ein lützel Schlaf. Doch eh der Morgen aufgeht, sollst du hinausreiten zum Taubensee und hinauf zum Hängmoos.«
Der Knecht lachte. »Da muß ich acht haben, Herr daß ich mein Rössel nit in die graue Supp hineinreit.«
»Wir haben nicht Spassenszeit!« sagte der Amtmann streng. »Auf dem Hängmoos zählst du die Kalben und Ochsen. Aber halte dein Maul vor dem Hirten! Und tu ihm keinen Trutz an! Und siehst du auf dem Hängmoos einen Käser stehen und tät es wahr sein, daß da droben Melkvieh weidet, so bring dem Richtmann Runotter eine Ladung vor mein Amt.«
»Soll ich Beistand mitnehmen? Wenn’s nötig wär, daß man zugreift.«
Someiner schüttelte den Kopf. »Der Runotter wird im guten kommen. Er soll bei mir sein, morgen, so lang noch Amtszeit ist.«
»Wohl, Gestreng Herr Amtmann! Wird geschehen.«
Als Marimpfel wieder draußen auf der Gasse war, tuschelte sein Kamerad die Frage: »Ist was Lustigs los?«
»Ich schmeck, man will einen Baurenschädel zwiefeln. Einen, dem ich’s gönn! Weil er die Nasenlöcher gar so weit auftut. Solcher Hochmut wachst, seit die Herren zu gut sind. War ich der Probst, ich möcht den Mistbrüdern einen Flohbeiß auf die Haut setzen, daß sie springen müßten, wie man winkt.«
Der so redete, war selber ein Ramsauer Kind und eines leibeigenen Bauern Sohn. Was die Schärpenfarbe für üble Wunder wirkt! Geschworener Knecht eines Herren werden, eines Herren Wehr und Farben tragen, und schlagen und stechen müssen auf des Herren Wink — das heißt, ein Hofmann sein, und heißt, verachten dürfen, was tiefer steht, und heißt, was Besseres werden, denn man gewesen als seiner Mutter Kind.
Die beiden Spießknechte schritten über den Marktplatz gegen das Stiftstor hin, vor dem das Pfannenfeuer brannte.
Im Widerschein der roten Loderflamme waren die Kanten des Gemäuers und die Säume der steilen Dächer wie von rinnendem Blut übergössen. Und hinter den dunklen Firsten stiegen die Türme des Münsters und der neuen Pfarrkirche in die sternschöne Nacht hinauf, gleich schwarzen, himmelhohen Riesen, die sich in der Finsternis aus den Schlünden der Erde erhoben hatten, um Ausschau zu halten über das Tun und Leben der kleinen Menschen.
In des gestrengen Amtsmanns Hause hatte Herr Someiner das Flurtor wieder fest verriegelt. Und hatte die drei Hängeschlösser wieder gesperrt, am Pergamentkasten, an der Tür der Amtsstube, am eisernen Gitter.
Als er mit dem schwankenden Laternchen die enge, steile Treppe hinaufstieg, war er des redlichen Glaubens, daß er im Dienste seines fürstlichen Herrn, des Erzpropstes zu Berchtesgaden, eine dringende Pflicht seines Amtes gewissenhaft und