eine solche Eingebung greift man nicht aus der Luft. Siemens ließ darum alle ihm in letzter Zeit bekannt gewordenen Erfindungen an seinem Auge vorüberziehen, um zu sehen, ob darunter nicht eine wäre, die er in auffallender Weise fördern könnte. In einer schlaflosen Nacht fiel ihm da die Schießbaumwolle ein, die vor kurzem von Professor Schönbein in Basel erfunden worden war. Man setzte damals in artilleristischen Kreisen große Hoffnung in diesen Stoff, der bei weitem kräftiger explodierte als das bisher verwendete Schwarzpulver. Störend war nur, daß sich die Schießbaumwolle sehr schnell zersetzte und daher praktisch nicht verwendbar war.
Siemens beschloß in seiner Not, die Schießbaumwolle haltbar zu machen, und ging sogleich mit loderndem Eifer an die Versuche. Von seinem alten Lehrer in der Chemie, Erdmann, erwirkte er sich die Erlaubnis, in dessen Laboratorium in der Königlichen Tierarzneischule experimentieren zu dürfen. Dort versuchte er und versuchte immer von neuem, Baumwolle mit Salpetersäure zu tränken. Er nahm immer stärker konzentrierte Lösungen, aber die größere Luftbeständigkeit wollte sich nicht einstellen.
Schließlich hatte er schon so viel Salpetersäure verbraucht, daß der Vorrat zu Ende zu gehen drohte. Da begann er ihn durch Mischung mit Schwefelsäure zu »strecken«. Und siehe da! Plötzlich hatte er, als er die Baumwolle mit dieser Mischung tränkte, ein vorzügliches Produkt vor sich, das sich nicht zersetzte und ganz ausgezeichnet explodierte. Ja, die Explosionsfähigkeit war sogar noch besser, als Siemens selbst es vermutete, wie er bald zu seinem Schrecken erfahren sollte.
Bis in die Nacht hinein hatte er in seiner Freude über das Gelingen der Versuche eine stattliche Menge der neuen guten Schießbaumwolle hergestellt und sie in den Ofen des Laboratoriums zum Trocknen gelegt. »Als ich nach kurzem Schlaf am frühen Morgen wieder nach dem Laboratorium ging,« so erzählt er, »fand ich den Professor trauernd unter Trümmern in der Mitte des Zimmers stehen. Beim Heizen des Trockenofens hatte sich die Schießbaumwolle entzündet und den Ofen zerstört. Ein Blick machte mir dies und zugleich das vollständige Gelingen meiner Versuche klar. Der Professor, mit dem ich in meiner Freude im Zimmer herumzutanzen suchte, schien mich anfangs für geistig gestört zu halten. Es kostete mir Mühe, ihn zu beruhigen und zur schnellen Wiederaufnahme der Versuche zu bewegen. Um elf Uhr morgens hatte ich schon ein ansehnliches Quantum Schießwolle gut verpackt und sandte es mit einem dienstlichen Schreiben direkt an den Kriegsminister.«
Im Ministerium erkannte man sofort die Wichtigkeit der neuen Zusammensetzung und ließ Schießversuche damit anstellen. Und wenn das Präparat auch in späteren Zeiten die Hoffnungen nicht erfüllte, die man damals darauf setzte, so war ihm doch der Erfolg beschieden, Siemens vor der Strafversetzung zu bewahren. Da man ihn in der Pulverfabrik zu Spandau für den weiteren Ausbau der Erfindung dringend brauchte, so war von der Verbannung nach Wittenberg keine Rede mehr, und von den Kameraden, die jenes Ronge-Manifest unterzeichnet hatten, blieb er als einziger in Berlin zurück. Kühne Selbsthilfe hatte ihn vor dem Verderben bewahrt.
Die Vervollkommnung des Telegraphen wurde darauf weiter eifrig betrieben, obwohl Siemens sich davon eine geschwinde Rettung aus der immer noch andauernden finanziellen Trübsal nicht versprechen konnte. Bald hatte er auf diesem Gebiet Erfindungen von großer und bleibender Bedeutung gemacht, so unter anderem die erste brauchbare Leitungsisolation hergestellt, wovon wir noch ausführlich hören werden; schon erwog er, ob es nicht günstig für ihn wäre, den Abschied vom Militär zu nehmen, um sich ganz der Telegraphentechnik zu widmen; schon gründete er eine kleine Werkstatt zur Ausführung der von ihm erfundenen Apparate, da wird er noch einmal von politischen Ereignissen aus seiner Bahn gerissen.
Revolution und Krieg
Das Jahr 1848 hatte seine drohenden Wolken heraufgeschickt. Ohne darauf vorbereitet zu sein, hörte Siemens plötzlich in sein Laboratorium den Donner der Revolution hineinrollen. Er fühlte bald, daß jetzt keine Zeit wäre, technische Neuerungen für den Staat zu schaffen, aber er stellte sich nicht entmutigt beiseite, um besseres Wetter abzuwarten, er verließ nicht mit einer sentimentalen Träne im Auge den wieder einmal morsch gewordenen Bau seiner Zukunft, sondern er gab sofort darauf acht, was er der Gegenwart Brauchbares leisten könnte.
In Berlin spielten sich die großen Ereignisse der Märztage ab. Siemens, der innerlich an der Bewegung teilnahm, mußte doch persönlich allen Kundgebungen fernbleiben, weil er des Königs Rock trug. Andererseits schloß ihn die Trennung von seinem Truppenteil, die eine Folge seiner Abkommandierung war, von jeder militärischen Aktion aus.
Bald darauf brach die Empörung der Schleswig-Holsteiner gegen die dänische Herrschaft aus. Die Stadt Kiel befreite sich zuerst, und bald waren die Dänen aus Schleswig vertrieben. Sie rüsteten sich zur Wiedereroberung und drohten, besonders Kiel durch ein Bombardement zu strafen.
Siemens' Schwager Himly war als Professor der Chemie schon seit längerer Zeit in Kiel ansässig, und die Schwester Mathilde schrieb nach Berlin angstvolle Briefe, denn sie sah schon ihr am Hafen gelegenes Haus von dänischen Kanonen zerstört. Die Einfahrt in die Föhrde war für die feindlichen Schiffe leicht, da die kleine Festung Friedrichsort, die den Hafeneingang sperrte, sich noch in dänischen Händen befand.
Der Hilferuf der Schwester löste in Werner Siemens einen Gedanken von größter Tragweite aus. Er wollte den Verwandten zu Hilfe eilen und überlegte sich, wie man wohl imstande sein könne, die Dänen von der Einfahrt in den Hafen zurückzuhalten. Als das einzig mögliche Mittel erschien ihm die Versenkung von großen Pulvermengen in das Wasser des Hafens so, daß sie beim Darüberfahren eines feindlichen Schiffs auf elektrischem Weg zur Explosion gebracht werden konnten. Die Idee der Unterseemine mit elektrischer Zündung tauchte hier zum erstenmal auf, und der Gedanke konnte auch nur aus dem Grund gefaßt werden, weil Werner Siemens die einzig brauchbare Isolierung von Leitungsdrähten gegen Seewasser geschaffen hatte.
Er bemühte sich sofort, einen Urlaub zur Fahrt nach Kiel zu erhalten. Die provisorische Regierung in den Herzogtümern, die von dem Plan Kenntnis erlangt hatte, sandte sogar einen besonderen Boten nach Berlin, der die Erlaubnis für Siemens erwirken sollte. Diese konnte jedoch nicht erteilt werden, da ja Preußen und Dänemark sich noch im Friedenszustand befanden. Jeder fühlte aber, daß der Ausbruch des Kriegs nur eine Frage von Tagen war. Die Wartezeit benutzte Siemens, um große Säcke aus starker, mit Kautschuk gedichteter Leinwand anzufertigen, von denen jeder fünf Zentner Pulver faßte; ferner bereitete er die isolierten Leitungen sowie die galvanischen Zündbatterien vor.
Endlich teilte ihm der Departementschef im Kriegsministerium, General von Reyher, in dessen Vorzimmer er täglich auf die Entscheidung wartete, mit, daß der Krieg gegen Dänemark beschlossen wäre, und daß er als erste feindliche Handlung Siemens den gewünschten Urlaub gewähre. Dieser brach sofort nach Kiel auf. Dort brachte sein Erscheinen in preußischer Uniform den Einwohnern die erwünschte Kunde von der ersehnten Kriegserklärung, und der Leutnant Siemens wurde darum mit begeistertem Jubel empfangen.
Sein Schwager Himly hatte indessen in Kiel schon alle Anstalten getroffen, damit die Minen schnell ausgelegt werden könnten, denn man erwartete täglich das Eintreffen der dänischen Flotte.
»Es war,« wie Siemens erzählt, »eine Schiffsladung von Rendsburg bereits eingetroffen, und eine Anzahl großer Stückfässer stand gut gedichtet und verpicht bereit, um einstweilen statt der noch nicht vollendeten Kautschuksäcke benutzt zu werden. Diese Fässer wurden schleunigst mit Pulver gefüllt, mit Zündern versehen und in der für große Schiffe ziemlich engen Fahrstraße vor der Badeanstalt derart verankert, daß sie etwa 20 Fuß unter dem Wasserspiegel schwebten. Die Zündleitungen wurden nach zwei gedeckten Punkten am Ufer geführt, und der Stromlauf so geschaltet, daß eine Mine explodieren mußte, wenn an beiden Punkten gleichzeitig die Kontakte für ihre Leitung geschlossen waren.
»Für jede Mine wurden an den beiden Beobachtungsstellen Richtstäbe aufgestellt und die Instruktion erteilt, daß der Kontakt geschlossen werden müsse, wenn ein feindliches Schiff sich in der Richtlinie der betreffenden Stäbe befinde, und so lange geschlossen bleiben müsse, bis sich das Schiff wieder vollständig aus der Richtlinie entfernt habe. Waren die Kontakte beider Richtlinien in irgendeinem Moment gleichzeitig geschlossen, so mußte das Schiff sich gerade über der Mine befinden. Durch Versuche mit kleinen Minen und Booten wurde konstatiert, daß diese