Grautoff Ferdinand Heinrich

«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt


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mehrfach von anderen Orten bestätigt wurde, gab verschiedenen liberalen Blättern Anlaß, sich in langen, theoretischen Artikeln über die Neutralitätsfrage an sich und insbesondere Belgiens Neutralität zu verbreiten. Diese Schreibtischpolitiker konnten sich auch jetzt noch immer nicht zu der Erkenntnis aufraffen, daß die Flut eines Krieges nicht vor papiernen Wänden Halt macht, sondern schonungslos über alle Verträge über Neutralität und derlei schöne Sachen hinwegrauscht. Es konnte kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß sich England in Antwerpen eine Operationsbasis für den Landfeldzug gesichert hatte, gewissermaßen einen festländischen Brückenkopf für Truppentransporte. Welche Stellung die belgische Regierung dazu einnahm, war nicht zu ersehen, bis unser Gesandter am 21. März mittags in Aachen eintraf und der Berliner Regierung mitteilte, man habe ihm in Brüssel einfach seine Pässe zugestellt, mit dem Ersuchen, das Land zu verlassen; somit stand auch Belgien in der Reihe der Gegner, es war von Frankreich und England vor die Frage gestellt worden, freiwillig oder unfreiwillig seine Grenzen den einmarschierenden Truppen zu öffnen.

      Die Stellung der Niederlande

      Durch die Okkupierung oder den Anschluß Belgiens an die Verbündeten – Genaueres war am 20. März noch nicht darüber bekannt – waren die Niederlande in eine sehr prekäre Lage versetzt worden. Sie hingen gewissermaßen zwischen den Kriegführenden in der Luft. Außer stande durch ihre kleine Armee, die Landesgrenzen zu verteidigen und den Volksheeren der großen Nachbarreiche somit widerstandslos preisgegeben, schwankte die niederländische Regierung zwischen einem Versuch, ihre Neutralität zu bewahren und der Entscheidung, zu welcher von beiden Parteien sie sich schlagen sollte. Folgte man Englands Fahnen, so konnte man vielleicht hoffen, den ostindischen Kolonialbesitz aus dem Trümmersturz zu retten. Schloß man sich dem deutschen Nachbar an, so bestand eine Möglichkeit, daß Deutschland auch die niederländische Grenze schützte. Andererseits war dann die kleine niederländische Flotte in Gefahr, von den Engländern ohne weiteres überrannt zu werden, wodurch dann auch die Seestädte in die Gewalt der Engländer fielen. Wohl war man sich im Haag jetzt über die Versäumnisse der letzten Jahre klar, als man die Hände, die sich von Osten hilfreich darboten, immer wieder eigensinnig zurückwies und durch das Beharren auf einer mißtrauischen, chauvinistischen Politik glaubte, die Rolle einer politischen Macht spielen zu können. Jetzt fielen die Entscheidungen, ohne daß man im Haag eine Möglichkeit hatte, sie irgendwie beeinflussen zu können. Man ging über das Bestehen des niederländischen Staates einfach zur Tagesordnung über. Holland hatte dasselbe Geschick, wie das benachbarte Belgien, und ohne daß weitere Schritte von der Regierung – das Ministerium hielt zwar dauernd Sitzungen ab, wurde aber schließlich von den Ereignissen überrascht – ergriffen wurden, ohne daß überhaupt ein diplomatisches Aktenstück mit dem Auslande gewechselt wurde, hatte sich das Schicksal des Staates bereits erfüllt. Noch ehe ein sentimentaler Protest der Niederlande in London eintraf, waren die Engländer bereits vor Vlissingen erschienen und im südlichen Teile des Landes standen bereits deutsche Truppen auf niederländischem Boden. Daß man jetzt das tat, was man rechtzeitig hätte vorbereiten sollen, hatte kaum noch einen Wert; der Anschluß der Niederlande an Deutschland verstärkte die Wehrkraft des Reiches nur um die völlig unvorbereitete, kleine niederländische Armee und einige Küstenpanzerschiffe, die nicht einmal mehr die deutschen Häfen erreichten, sondern auf der Höhe von Texel von einem Detachement der englischen Flotte nach einem halbstündigen Kampfe abgetan wurden. Der Rest der niederländischen Marine wurde in den Kriegshäfen einfach von den Engländern abgewürgt. Der englische Admiral rüstete diese Fahrzeuge noch auf den niederländischen Werften mit den dortigen Beständen aus und reihte sie dann dem englischen Reservegeschwader ein.

      Anfang April erschienen vor Batavia einige englische Schiffe. Das Gefecht auf der Reede endete mit der Vernichtung der geringen niederländischen Streitkräfte. Nach Verlust zweier kleiner Kreuzer besetzten die Engländer Batavia und machten die Stadt zu einer englischen Flottenbasis. Die Gefechte der (von Hongkong aus) gelandeten englischen Truppen mit der niederländischen Kolonialarmee dauerten bekanntlich noch einige Monate, dann aber zogen die Niederländer es vor, eingeengt zwischen einem europäischen Feind und den grausamen Banden der eingeborenen Volksstämme, zu kapitulieren, um ihr Leben nicht nutzlos an eine verlorene Sache zu setzen. Im Mai existierten niederländische Kolonien nicht mehr und das kleine Mutterland ward mit zum Schauplatz der Kämpfe, die hier, auf dem Grenzgebiet zwischen West und Ost, die friedlichen Bewohner furchtbar in Mitleidenschaft zogen. Über dem Grabe der niederländischen Selbständigkeit aber prangte die Inschrift: „Eine versäumte Gelegenheit“.

      Alarmierende Nachrichten

      Am Abend des 20. März waren überall an der westlichen Grenze vom Dollartbusen an bis hinunter nach Lörrach, alle Stationen der Grenzpolizei bereits von militärischen Kommandos besetzt. Der gesamte Grenzverkehr hatte schon um die Mittagsstunde völlig aufgehört. Wer sich von den eintreffenden Reisenden nicht als Reichsangehöriger ausweisen konnte, wurde zurückgeschickt, und andererseits ließ man niemand, auch keinen Fremden mehr von diesseits über die Grenze, schon um Indiskretionen von seiten Privatpersonen hinsichtlich der Mobilmachung zu verhindern.

      Besonders in den Hafenstädten, wo die Nachrichten aus aller Welt bis dahin zusammengeflossen waren, empfand man das plötzliche Abschnappen der Kabelmeldungen als störend. Man war von der Außenwelt völlig abgeschnitten, und wenn man auch das gewöhnliche Depeschenmaterial, soweit es sich auf politische Vorgänge bezog, nicht gerade sehr entbehrte, so erzeugte doch das Ausbleiben der Meldungen über den Schiffsverkehr im Auslande große Beunruhigung. Nach dem Stand der Meldungen vom 18. März wußten die Dampfergesellschaften und Reedereien der Seestädte zwar, wo sich an diesem Tage ihre Schiffe befunden hatten, man war jedoch jetzt völlig außer stande, zu kontrollieren, was aus diesen schwimmenden Millionen des Nationalvermögens geworden war. Die Vorkehrungen zur Sicherheit, die man treffen konnte, waren verschwindend gering. Man hielt alle auslaufenden Schiffe zurück und schickte sie von Bremerhaven und Cuxhaven usw. wieder stromaufwärts, um sie von dem Schauplatz voraussichtlicher baldiger Kämpfe zu entfernen. Das war aber auch alles, was sich anordnen ließ. Der Verkehr nach den Nordseeinseln und die Küstenschiffahrt wurden sofort eingestellt. Der Hamburger und Bremer Senat hatte in Berlin angefragt, wie man sich gegenüber den in den Häfen liegenden englischen und französischen Schiffen verhalten sollte. Einige englische Dampfer hatten ohne weiteres den Hafen bereits verlassen ohne Rücksicht darauf, ob sie Ladung oder Löschung bereits beendet hatten.

      Von Berlin aus kam die Anweisung, alle französischen und englischen Schiffe einstweilen im Hafen zurückzuhalten und weitere Anordnungen abzuwarten. Man beabsichtige dieses Schiffsmaterial als ein Pfandobjekt zu benutzen, falls die fremden Regierungen deutsches Privateigentum zur See aufbringen sollten. Eine entsprechende Note sei dem abreisenden englischen und französischen Botschafter vor ihrer Abfahrt aus Berlin zugestellt worden, mit der Bemerkung, daß die deutsche Regierung gesonnen sei, sich in dieser Frage nach dem Verhalten der fremden Regierungen zu richten. Man blieb hierüber nicht lange im unklaren.

      Selbst wenn man den zahlreichen Meldungen, daß deutsche Dampfer und Segelschiffe auf der Nordsee und im Kanal, sowie an der englischen Küste bereits von englischen Kreuzern und Torpedobooten aufgebracht sein sollten, einstweilen keinen Glauben beimessen wollte, so lag doch andererseits von Amsterdam aus schon die Meldung vor, daß der Dampfer „Gretchen Bohlen“, sowie der Dampfer der Deutsch-Ostafrikalinie „Bundesrat“ (Durbaner Andenkens) sofort nach dem Verlassen des Hafens von Rotterdam von einem englischen Kriegsfahrzeuge aufgebracht waren. Ferner wurde gemeldet, daß der Norddeutsche Lloyd-Dampfer „Kronprinz Wilhelm“, auf der Rückfahrt von New York, auf der Höhe von Dover angehalten und in den Hafen geschleppt worden sei. Es wurde auch noch von mehreren Schiffen berichtet; so sollten auf der Höhe von Texel der Touristendampfer „Therapia“ von der Levantelinie und mehrere kleine Hamburger und Bremer Dampfer von einem großen englischen Kreuzer gekapert worden sein. Alle diese Nachrichten wirkten sehr alarmierend, und an der Börse von Hamburg herrschte große Aufregung. Dazu kamen noch andere Meldungen, so hieß es, die englische Flotte liege bereits auf der Höhe von Norderney. Dann wurde aus Frederikshavn (Nordküste Jütlands) gemeldet, eine schwimmende Batterie ohne Landesflagge habe in einer Entfernung von vier Seemeilen südlich steuernd die jütische Ostküste passiert. Ein in Esbjerg eingetroffener dänischer Fischdampfer wollte ferner unweit der Doggersbank ein englisches Geschwader manöverierend und nach Osten steuernd angetroffen