Grautoff Ferdinand Heinrich

«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt


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der Falm von dort aus mit scharfen Gläsern den Horizont absuchend.

      Unten am Marinepier lagen die sechs schwarzen Hochseeboote „S. 114“ bis „119“, taktmäßig auf der ans Ufer drängenden breiten Dünung sich an der Mole hebend und senkend. Kapitänleutnant Westerkamp betrat jetzt, vom Oberlande kommend, begleitet von den Führern der anderen Boote, eiligst die Mole, verabschiedete sich mit kurzem Händedruck von seinen Kameraden und ging an Bord von „S. 114“. Im Schatten des hohen Felsenufers von Helgoland lagen die sechs Boote fast schon in vollkommener Dunkelheit, und die wenigen Neugierigen, die von dem Doppelposten am Strande vor der Mole zurückgehalten wurden, vermochten nur wenig von dem zu unterscheiden, was an Bord der Torpedoboote vor sich ging. Daß dort aber rege Tätigkeit herrschte, konnte man daran erkennen, daß huschende Schatten die rotglühenden Deckslichter bald verdeckten, bald wieder freigaben. Allmählich aber ward alles ruhig, die Wache ging in hallenden Schritten auf den Decksplatten auf und nieder und alles Leben schien auf den schwarzen ernsten Schiffen erstorben.

      Um dieselbe Zeit konnte man oben von der Falm aus und von der am meisten nach Südwest vorgeschobenen Batterie des Oberlandes ein merkwürdiges Schauspiel beobachten. Nur ein dunkelroter Streifen, der die düsteren Regenwolken, die sich am westlichen Horizont zusammengeballt hatten, in ihren unteren Konturen noch scharf erkennen ließ, zeigte die Stelle, wo die Sonne untergegangen war. Eine frische Brise von Westen war aufgesprungen und schlug die Drähte des Signalmastes der Funkenspruchstation hart aneinander. Es lag wie Gewitterstimmung in der warmen Luft. Das Licht des steinernen Leuchtturmes brannte diese Nacht nicht mehr, das erste Zeichen des Kriegszustandes. Da blitzte es plötzlich im Südwesten auf wie fernes Wetterleuchten, und weiße Lichtgarben schossen plötzlich aus der Wasserfläche empor, dreimal, viermal, in kurzen, unregelmäßigen Zwischenräumen, lautlos aufsprühend wie Raketenfeuer. Plötzlich zuckten auch vom Leuchtturm aus mehrere Blitze, den westlichen Teil der Insel mit weißem Licht übergießend. Dann war mit Gedankenschnelle diese stumme Lichtsprache wieder verschwunden und die Dunkelheit schlug über diesem Feuerwerk wieder zusammen, nur in dem kleinen Gebäude der Funkenspruchstation prasselten und knatterten die elektrischen Funken, die Mitteilung an den kommandierenden Admiral weitergebend, daß das Kreuzergeschwader Wilhelmshaven um 4 Uhr nachmittags verlassen habe und, jetzt auf der Höhe von Helgoland befindlich, seinen Weg entsprechend der dem Admiral bekannten Befehle nach Norden fortsetze.

      Um ½8 Uhr betrat Kapitänleutnant Westerkamp wieder das Deck des Torpedobootes „S. 114“. In die Tür des niedrigen Signalhauses tretend, hielt er seine Uhr gegen das Licht der kleinen Laterne an der Steuermaschine. „½8 Uhr“, sagte er leise zu dem Mann an der Maschine, schloß die Tür hinter sich und ergriff den Hebel des Maschinentelegraphen. Unten im Maschinenraum rasselten die Klingeln und kurz darauf warfen die dicken Schlote der Boote schwere Rauchwolken aus. Die Trossen wurden gelöst, noch ein Signal an die Maschinen und lautlos verließen die Boote ihren Liegeplatz, sofort von der Dunkelheit verschluckt, in der einige Minuten später zwei grüne Funken wie gierige Raubtieraugen erglühten, von der Stelle, wo das Admiralsschiff lag, mit einem anderen Glühsignal beantwortet.

      Helgoland war gesichert gegen jeden unvermuteten Überfall. Während das Geschwader südöstlich der Insel liegen blieb, bildeten die Kreuzer in weiter Entfernung einen Halbkreis um die Insel und zwischen ihnen hielt eine Reihe vorgeschobener Torpedobootposten scharfe Wacht. Die von Kapitänleutnant Westerkamp befehligte Division hatte den Auftrag, in der Richtung auf den Kanal aufzuklären, während die Panzerkreuzer „Prinz Adalbert“ und „Friedrich Karl“ in derselben Richtung Fühlung mit dem Feinde suchen sollten, dessen Herannahen in dieser Nacht bereits zu erwarten war. Die einzelnen Schiffe standen durch Funkspruch miteinander in Verbindung, so daß jede Nachricht sofort auf der ganzen Postenkette bekannt werden konnte.

      Gegen Mitternacht befand sich die Division des Kapitänleutnant Westerkamp, mit 25 Knoten Geschwindigkeit die Wogen durchrasend, etwa auf der Höhe von Terschelling. Kein Lichtschimmer, keine Laterne verriet den Weg der schwarzen Schiffe. Um den messerscharfen Bug sprudelte das dunkle Wasser, helle Schaummassen bis zum Wellenbrecher emporwerfend. Kapitänleutnant Westerkamp befand sich unten in der Offiziersmesse, dort auf der Seekarte den Weg der Division eine Seemeile um die andere verfolgend. Leise nur drang das taktmäßige Stampfen der Maschine, die den ganzen Schiffskörper in harten Schwingungen vibrieren ließ, aus dem Maschinenraum zu ihm herüber. Die Division hatte den Befehl, den Feind, falls er schon unterwegs angetroffen werden sollte, ohne weiteres anzugreifen. Würde man den Feind nicht finden, so hatte die Division den Befehl, bei Tagesanbruch auf die beiden Panzerkreuzer zurückzufallen und abends wieder vorzugehen, um womöglich in der Nacht noch die englischen Kriegshäfen zu erreichen und, wenn eine Gelegenheit günstig, feindliche Schiffe überraschend anzugreifen.

      Gegen Mitternacht zog sich Kapitänleutnant Westerkamp seinen Ölrock an und begab sich, die schmale, steile Treppe emporklimmend, wobei schon die starken Schwankungen des Bootes infolge heftiger werdenden Seeganges, deutlich zu spüren waren, wieder an Deck.

      Es war eine finstere, sternenlose Nacht. Schon wenige Meter vom Schiffe aus verschwamm alles in absoluter Dunkelheit und nur das an diese bereits gewöhnte Auge vermochte links und rechts die beiden zur Seite fahrenden Boote als schwebende Schatten zu erkennen. Gurgelnd und schäumend verschwanden die von leichten Schaumstreifen gekrönten Wogen in rascher Fahrt hinter dem Schiffskörper, der auf ihnen eine graue Bahn rauschender Schaumblasen zurückließ. Die hinteren drei Boote vermochte man in der Finsternis, die wie aus Stahlblöcken gefügt wie eine Wand vor den Augen stand, nicht zu erkennen. Das taktmäßige Schlagen der Maschinen und ihre dumpfen Kolbenstöße waren der einzige, rings vernehmbare Laut. Im Feuerraum flogen die Kohlen Schaufel um Schaufel in die glühenden Öffnungen der Kesselfeuerungen. Der hochgespannte Dampf surrte und brauste in den Ventilen und wie am offenen Höllenrachen sah man die schwarzen Gestalten der Heizer in dem rotglühenden Lichte arbeiten, sobald die Feuertüren sich öffneten, und unablässig flogen die Kohlen Schaufel um Schaufel in die Feuerungen.

      Vergebens suchte man mit starren Augen die kompakte Dunkelheit zu durchbohren. Da blitzte plötzlich über Steuerbord eine weiße Lichtgarbe auf, ganz fern die wogende Meeresfläche mit bleichem Lichte überziehend und nach Sekunden wieder verlöschend: War das Freund oder Feind? Überall rasselten die Klingeln der Maschinentelegraphen. Die Fahrt wurde auf 28 Knoten erhöht. Einen Moment drängten sich die Boote auf einen Haufen zusammen, um dann strahlengleich nach vorwärts auseinander zu schießen, jedes das andere aus dem Gesichtskreis verlierend. Der Wind pfiff frisch über die dunkle Seefläche, und jetzt, wo man die Wogen schräg vom Backbord bekam, platschten wuchtige Spritzer über Deck. Kapitänleutnant Westerkamp übernahm nunmehr das Kommando seines Bootes selber und hielt nach der Stelle, wo der Blitz des Scheinwerfers die Anwesenheit fremder Schiffe verraten hatte. Und weiter pflügte der schwarze Schiffsleib und die peitschenden Schrauben das schwarze Meerwasser.

      Da erschien vorn übers Steuerbord ein huschender Schatten, der den Weg von „S. 114“ kreuzte. Zwei Minuten später und man passierte einen grauen, kaum bemerkbaren Schaumstreifen, der den Weg eines feindlichen Bootes flüchtig markierte. Die erste Postenlinie des Feindes war passiert. Alle Pulse flogen, fest und sicher aber ruhte des Führers Hand auf dem Hebel des Maschinentelegraphen. Noch ein Moment und noch einer, da stieg eine graue nach oben zackig ausgerissene Wand vor den Blicken auf, herumgerissen den Hebel, ein leiser metallener Klang von unten aus der Maschine, der Schiffskörper erbebte unter den Vibrationen, „S. 114“ änderte seinen Kurs, ein wenig nach Backbord abfallend. Jetzt war man auf gleicher Höhe mit dem dunklen Schatten.

      Der Leutnant stand bei den Mannschaften am ersten Torpedorohr, jetzt das Kommandosignal: „Los“, ein Riß am Abzuge und klatschend sauste der blanke Metallkörper ins schwarze Wasser. Wird der Schuß treffen, man zählte in Gedanken 100 m … 200 m … 300 m … 400 m … jetzt, da schäumte gerade aus, ganz hinten ein weißer Wasserberg auf, ein dumpfer Krach wie von zerreißendem Metall und eine glänzende Wassergarbe stieg mittschiffs des feindlichen Panzerkreuzers auf. …

      Da, blendende Helle, weiße Strahlengarben. Plötzlich war das Deck in grelles Licht getaucht. Die Mannschaften an den Torpedorohren erschienen wie Gespenster aus der Dunkelheit auftauchend, zwei andere Boote zur linken Seite ebenfalls in Tageshelle. Von ihr geblendet vermochte das Auge den rasch aufeinander folgenden Ereignissen kaum noch zu folgen. Rasselnde Signale, laute Kommandos, das Wasser spritzte auf