Er rief die Bilder der beiden Großväter neben – und gegeneinander auf, des rebellischen und des getreuen, die Schwarz trugen aus unter-schiedlichen Gründen, und erwog ihre Würde; ging ferner mit sich zu Rate über so weitläufige Komplexe wie Form und Frei-heit, Geist und Körper, Ehre und Schande, Zeit und Ewigkeit, – und unterlag einem kurzen, aber stürmischen Schwindel bei dem Gedanken, daß die Akelei wieder blühte und das Jahr in sich selber lief.
Er hatte ein sonderbares Wort für diese seine verantwortliche Gedankenbeschäftigung am malerischen Orte seiner Zurückge-zogenheit: er nannte sie "Regieren", – gebrauchte dies Spiel-und Knabenwort, diesen Kinderausdruck dafür, als für eine Un-terhaltung, die er liebte, obwohl sie mit Schrecken, Schwindel und allerlei Herztumulten verbunden war und seine Gesichts-hitze übermäßig verstärkte. Doch fand er es nicht unschicklich, daß die mit dieser Tätigkeit verbundene Anstrengung ihn nötig-te, sich der Kinnstütze zu bedienen, denn diese Haltung stimm-te wohl mit der Würde überein, die das "Regieren" angesichts des vorschwebenden Hochgebildes ihm innerlich verlieh.
"Homo Dei" hatte der häßliche Naphta das Hochgebild ge-nannt, als er es gegen die englische Gesellschaftslehre verteidigte. Was Wunder, daß Hans Castorp um seiner zivilistischen Ver-antwortlichkeit willen und im Regierungsinteresse sich gehalten fand, mit Joachim bei dem Kleinen Besuch zu machen? Settem-brini sah es ungern, – dies deutlich zu spüren, war Hans Castorp schlau und dünnhäutig genug. Schon die erste Begegnung war dem Humanisten unangenehm gewesen, er hatte sie offensicht-lich zu verhindern gestrebt und die jungen Leute, namentlich aber ihn selbst – so sagte sich das durchtriebene Sorgenkind – vor der Bekanntschaft mit Naphta pädagogisch hüten wollen, obgleich ja er für seine Person mit ihm verkehrte und disputier-te. So sind die Erzieher. Sich selber gönnen sie das Interessante, indem sie sich ihm "gewachsen" nennen; der Jugend aber ver-bieten sie es und verlangen, daß sie sich dem Interessanten nicht "gewachsen" fühle. Ein Glück nur, daß es dem Drehorgelmann im Ernst überhaupt nicht zustand, dem jungen Hans Castorp et-was zu verbieten, und daß er ja auch gar nicht den Versuch dazu gemacht hatte. Der Sorgenzögling brauchte seine Dünnhäutigkeit nur zu verleugnen und Unschuld vorzuschützen, so hinder-te nichts ihn, der Einladung des kleinen Naphta freundlich zu folgen, – was er denn auch getan hatte, mit dem wohl oder übel sich anschließenden Joachim, wenige Tage nach dem ersten Zu-sammentreffen, an einem Sonntagnachmittag, nach dem Haupt-liegedienst.
Es waren wenige Minuten Wegs vom Berghof hinunter zum Häuschen mit der weinumkränzten Haustür. Sie traten ein, lie-ßen den Zugang zum Krämerladen zur Rechten liegen und er-klommen die schmale braune Stiege, die sie vor eine Etagentür führte, neben deren Klingel lediglich das Namensschild Luka-ceks, des Damenschneiders, angebracht war. Die Person, die ih-nen öffnete, war ein halbwüchsiger Knabe in einer Art von Livree, gestreifter Jacke und Gamaschen, ein Dienerchen, kurz-geschoren und rotbackig. Ihn fragten sie nach Herrn Professor Naphta und prägten ihm, da sie mit Karten nicht ausgestattet waren, ihre Namen ein, die er Herrn Naphta – er gebrauchte keinen Titel – zu nennen ging. Die dem Eingang gegenüberlie-gende Zimmertür stand offen und gewährte Einblick in die Schneiderei, wo des Feiertags ungeachtet Lukajek mit unterge-schlagenen Beinen auf einem Tische saß und nähte. Er war bleich und kahlköpfig; von einer übergroßen, abfallenden Nase hing ihm der schwarze Schnurrbart mit saurem Ausdruck zu Sei-ten des Mundes herab.
"Guten Tag!" wünschte Hans Castorp.
"Grütsi", antwortete der Schneider mundartlich, obgleich das Schweizerische weder zu seinem Namen noch zu seinem Äuße-ren paßte und etwas falsch und sonderbar klang.
"So fleißig?" fuhr Hans Castorp nickend fort… "Es ist ja Sonntag!"
"Eilige Arbeit", versetzte Lukaçek kurz und stichelte.
"Ist wohl was Feines", vermutete Hans Castorp, "was rasch gebraucht wird, für eine Reunion oder so?"
Der Schneider ließ diese Frage eine Weile unbeantwortet, biß den Faden ab und fädelte neu ein. Nachträglich nickte er.
"Wird es hübsch?" fragte Hans Castorp noch. "Machen Sie Ärmel dran?"
"Ja, Ärmel, es ist für eine Olte", antwortete Lukaçek mit stark böhmischem Akzent. Die Rückkehr des Dienerchens unterbrach dies durch die Tür geführte Gespräch. Herr Naphta lasse bitten, näher zu treten, meldete er und öffnete den jungen Leuten eine Tür, zwei oder drei Schritte weiter rechts, wobei er auch noch eine zusammenfallende Portiere vor ihnen aufzuheben hatte. Die Eintretenden empfing Naphta, in Schleifenschuhen auf moosgrünem Teppich stehend.
Beide Vettern waren überrascht durch den Luxus des zwei-fenstrigen Arbeitszimmers, das sie aufgenommen hatte, ja ge-blendet durch Überraschung; denn die Dürftigkeit des Häus-chens, seiner Treppe, seines armseligen Korridors ließ derglei-chen nicht entfernt erwarten und verlieh der Eleganz von Naphtas Einrichtung durch Kontrastwirkung etwas Märchenhaftes, was sie an und für sich kaum besaß und auch in den Augen Hans Castorps und Joachim Ziemßens nicht besessen hätte. Im-merhin, sie war fein, ja glänzend, und zwar so, daß sie trotz Schreibtisch und Bücherschränken den Charakter des Herrenzimmers eigentlich nicht wahrte. Es war zuviel Seide darin, weinrote, purpurrote Seide: die Vorhänge, die die schlechten Türen verbargen, waren daraus, die Fenster-Überfälle und eben-so die Bezüge der Meubles-Gruppe, die an einer Schmalseite, der zweiten Tür gegenüber, vor einem die Wand fast ganz be-spannenden Gobelin angeordnet war. Es waren Barockarmstüh-le mit kleinen Polstern auf den Seitenlehnen, um einen runden, metallbeschfagenen Tisch gruppiert, hinter dem ein mit Seiden-plüschkissen ausgestattetes Sofa desselben Stiles stand. Die Bü-cherspinde nahmen die Wandpartien neben den beiden Türen ein. Sie waren, wie der Schreibtisch, oder vielmehr der mit einem gewölbten Rolldeckel versehene Sekretär, der zwischen den Fenstern Platz gefunden hatte, in Mahagoni gearbeitet, mit Glastüren, hinter die grüne Seide gespannt war. Aber in dem Winkel links von der Sofagruppe war ein Kunstwerk zu sehen, eine große, auf rot verkleidetem Sockel erhöhte bemalte Holzplastik, – etwas innig Schreckhaftes, eine Pietà, einfältig und wirkungsvoll bis zum Grotesken: die Gottesmutter in der Hau-be, mit zusammengezogenen Brauen und jammernd schief ge-öffnetem Munde, den Schmerzensmann auf ihrem Schoß, eine im Größenverhältnis primitiv verfehlte Figur mit kraß heraus-gearbeiteter Anatomie, die jedoch von Unwissenheit zeugte, das hängende Haupt von Dornen starrend, Gesicht und Glieder mit Blut befleckt und berieselt, dicke Trauben geronnenen Blutes an der Seitenwunde und den Nägelmalen der Hände und Füße. Dies Schaustück verlieh dem seidenen Zimmer nun freilich einen besonderen Akzent. Auch die Tapete, über den Bücher-schränken und an der Fensterwand sichtbar, war übrigens offen-bar eine Leistung des Mieters: das Grün ihrer Längsstreifen war das des weichen Teppichs, der über die rote Bodenbespannung gebreitet war. Nur der niedrigen Decke war wenig zu helfen gewesen. Sie war kahl und rissig. Doch hing ein kleiner vene-zianischer Lüster daran herab. Die Fenster waren mit cremefar-benen Stores verhüllt, die bis zum Boden reichten.
"Da haben wir uns zu einem Kolloquium eingefunden!" sag-te Hans Castorp, während seine Augen mehr an dem frommen Schrecknis im Winkel, als an dem Bewohner des überraschen-den Zimmers hafteten, der es anerkannte, daß die Vettern Wort gehalten hätten. Er wollte sie mit gastlichen Bewegungen seiner kleinen Rechten zu den seidenen Sitzen leiten, aber Hans Castorp ging geradewegs und gebannt auf die Holzgruppe zu und blieb, Arme in die Hüften gestemmt, mit seitwärts geneigtem Kopf davor stehen.
"Was haben Sie denn da!" sagte er leise. "Das ist ja schreck-lich gut. Hat man je so ein Leiden gesehn? Etwas Altes, natür-lich?"
"Vierzehntes Jahrhundert", antwortete Naphta. "Wahrscheinlich rheinischer Herkunft. Es macht Ihnen Eindruck?"
"Enormen", sagte Hans Castorp. "Das kann seinen Eindruck auf den Besucher denn doch wohl gar nicht verfehlen. Ich hätte nicht gedacht, daß etwas zugleich so häßlich – entschuldigen Sie – und so schön sein könnte."
"Erzeugnisse einer Welt der Seele und des Ausdrucks", ver-setzte Naphta, "sind immer häßlich vor Schönheit und schön vor Häßlichkeit, das ist die Regel. Es handelt sich um geistige Schönheit, nicht um die des Fleisches, die absolut dumm ist. Übrigens, auch abstrakt ist sie", fügte er hinzu. "Die Schönheit des Leibes ist abstrakt. Wirklichkeit hat nur die innere, die des religiösen Ausdrucks."
"Das haben Sie dankenswert richtig unterschieden und ange-ordnet", sagte Hans Castorp. "Vierzehntes?" versicherte er sich