das ist eine Eulenspiegelei! Im Winter wachsen die Tage, und wenn der längste kommt, 21. Juni, Sommersanfang, dann geht es schon wieder bergab, sie werden schon wieder kürzer, und es geht gegen den Winter. Du nennst das selbstverständlich, aber wenn man einmal davon absieht, daß es selbst-verständlich ist, dann kann einem angst und bange werden, momentweise, und man möchte krampfhaft nach etwas greifen. Es ist, als ob Eulenspiegel es so eingerichtet hätte, daß zu Win-tersanfang eigentlich der Frühling beginnt und zu Sommersanfang eigentlich der Herbst … Man wird ja an der Nase herum-gezogen, im Kreise herumgelockt mit der Aussicht auf etwas, was schon wieder Wendepunkt ist… Wendepunkt im Kreise. Denn das sind lauter ausdehnungslose Wendepunkte, woraus der Kreis besteht, die Biegung ist unmeßbar, es gibt keine Rich-tungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht 'geradeaus, geradeaus', sondern 'Karussell, Karussell'."
"Hör' auf!"
"Sonnwendfeier!" sagte Hans Castorp, "Sommersonnenwende! Bergfeuer und Ringelreihn rund um die lodernde Flamme herum mit angefaßten Händen! Ich habe es nie gesehen, aber ich höre, so wird es gemacht von urwüchsigen Menschen, so feiern sie die erste Sommernacht, mit der der Herbst beginnt, die Mittagsstunde und Scheitelhöhe des Jahres, von wo es ab-wärts geht, – sie tanzen und drehen sich und jauchzen. Worüber jauchzen sie in ihrer Urwüchsigkeit, – kannst du dir das be-greiflich machen? Worüber sind sie so ausgelassen lustig? Weil es nun abwärts geht ins Dunkel, oder vielleicht, weil es bisher aufwärts ging und nun die Wende gekommen ist, der unhaltba-re Wendepunkt, Mittsommernacht, die volle Höhe, mit Weh-mut im Übermut? Ich sage es, wie es ist, mit den Worten, die mir dafür einfallen. Es ist melancholischer Übermut und über-mütige Melancholie, weshalb die Urwüchsigen jauchzen und um die Flammen tanzen, sie tun es aus positiver Verzweiflung, wenn du so sagen willst, zu Ehren der Eulenspiegelei des Krei-ses und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wieder-kehrt."
"Ich will nicht so sagen", murmelte Joachim, "bitte, schiebe es nicht auf mich. Es sind ja weitläufige Dinge, mit denen du dich beschäftigst des Abends, wenn du liegst."
"Ja, ich will nicht leugnen, daß du dich nützlicher beschäftigst mit deiner russischen Grammatik. Du mußt die Sprache nächstens ja fließend beherrschen. Mensch, natürlich ein großer Vorteil für dich, wenn es Krieg gibt, was Gott verhüte."
"Verhüte? Du sprichst wie ein Zivilist. Krieg ist notwendig. Ohne Kriege würde bald die Welt verfaulen, hat Moltke gesagt."
"Ja, dazu hat sie wohl eine Neigung. Und so viel kann ich dir zugeben", setzte Hans Castorp an und wollte eben auf die Chaldäer zurückkommen, die ebenfalls Krieg geführt und Ba-bylonien erobert hätten, obgleich sie Semiten und also beinahe Juden gewesen seien, – als beide gleichzeitig gewahr wurden, daß zwei Herren, die dicht vor ihnen gingen, die Köpfe nach ihnen wandten, aufmerksam gemacht durch ihre Reden, gestört in eigener Unterhaltung.
Es war auf der Hauptstraße, zwischen dem Kurhaus und dem Hotel Belvedere, auf dem Rückweg nach Davos-Dorf Das Tal lag im Festkleide, in zarten, lichten und frohen Farben. Die Luft war köstlich. Eine Symphonie von heiteren Wiesenblumendüften erfüllte die reine, trockene, klar durchsonnte Atmosphäre.
Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Frem-den; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wünsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unterhaltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwärts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht, mit "Sapristi!" und "Teufel noch ein-mal!", wollte aber nun wieder zurückhalten, die beiden vor-über – und vorangehen lassen, was sie jedoch nicht verstanden, das heißt: nicht bemerkten, weil sie keine Vernunft darin sahen. Ehrlich erfreut vielmehr, ihm nach längerer Trennung wieder zu begegnen, hielten sie sich bei ihm und schüttelten ihm die Hand, indem sie nach seinem Ergehen fragten und in höflicher Erwartung dabei zu seinem Gefährten hinüberblickten. So zwangen sie ihn, zu tun, was er offenbar lieber nicht getan hätte, was aber ihnen als die natürlichste und zu gewärtigendste Sache von der Welt erschien: nämlich sie mit jenem bekannt zu machen, – was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben derart geschah, daß Settembrini, mit verbindenden Handbewegun-gen und lustigen Reden die Herren miteinander in Beziehung setzte, sie vor seiner Brust sich die Hände reichen ließ.
Es stellte sich heraus, daß der Fremde, der Settembrinis Jahre haben mochte, dessen Hausgenosse war: der andere Aftermieter Lukaçeks, des Damenschneiders, Naphta mit Namen, soviel die jungen Leute verstanden. Er war ein kleiner, magerer Mann, ra-siert und von so scharfer, man möchte sagen: ätzender Häßlich-keit, daß die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dick geschliffenen Gläser der im übrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das er be-wahrte, und dem zu entnehmen war, daß seine Rede scharf und folgerecht sein werde. Er war barhaupt, wie es sich gehörte, und im bloßen Anzug, – sehr wohlgekleidet dabei: sein dunkelblau-er Flanellanzug mit weißen Streifen zeigte guten, gehalten mo-dischen Schnitt, wie der weltkindlich prüfende Blick der Vettern feststellte, die übrigens einem ebensolchen, nur rascheren und schärferen, an ihren Personen hinabgleitenden Blick von seiner, des kleinen Naphta Seite, begegneten. Hätte Lodovico Settembrini seinen faserigen Flaus und seine gewürfelten Hosen nicht mit so viel Anmut und Würde zu tragen gewußt, – seine Erscheinung hätte unvorteilhaft abstechen müssen von der fei-nen Gesellschaft. Sie tat esjedoch um so weniger, als die Gewürfelten frisch aufgebügelt waren, so daß man sie auf den er-sten Blick fast für neu hätte halten können, – ein Werk seines Quartiergebers zweifellos, nach beiläufiger Überlegung der jungen Leute. Wenn aber der häßliche Naphta nach der Güte und Weltlichkeit seiner Kleidung den Vettern näher stand als seinem Hausgenossen, so ordneten doch nicht alleine seine vor-gerückteren Jahre ihn mit diesem gegen die Jünglinge zusam-men, sondern entschieden noch etwas anderes, was sich am be-quemsten auf die Gesichtsfarbe der beiden Paare zurückführen ließ, nämlich darauf, daß die einen braun und rotgebrannt, die anderen aber bleich waren: Joachims Gesicht war im Laufe des Winters noch bronzefarbener nachgedunkelt, und dasjenige Hans Castorps glühte rosenrot unter seinem blonden Scheitel; aber Herrn Settembrinis welscher Blässe, die gar edel zu seinem schwarzen Schnurrbart stand, hatte die Strahlung nichts anzuhaben vermocht, und sein Genosse, obgleich blonden Haares – es war übrigens aschblond, metallisch-farblos, und er trug es glatt aus der fliegenden Stirn über den ganzen Kopf zurückgestrichen – , zeigte gleichfalls die mattweiße Gesichtshaut brünetter Rassen. Zwei von den vieren trugen Spazierstöcke, nämlich Hans Castorp und Settembrini; denn Joachim ging aus militäri-schen Gründen ohne einen solchen, und Naphta legte nach er-folgter Vorstellung sogleich wieder die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie waren klein und zart, wie auch seine Füße sehr zierlich waren, übrigens seiner Figur entsprechend. Daß er er-kältet wirkte und auf eine gewisse schwächliche und unförderli-che Art hustete, fiel nicht auf.
Jenen Anflug von Betroffenheit oder Verstimmung beim Gewahrwerden der jungen Leute hatte Settembrini sofort mit Eleganz überwunden. Er zeigte sich in der besten Laune und machte die drei unter Scherzreden bekannt, – zum Beispiel be-zeichnete er Naphta als "Princeps scholasticorum". Die Fröh-lichkeit, sagte er, "halte glanzvoll Hof im Saale seiner Brust", wie Aretino sich ausgedrückt habe, und das sei des Frühlings Verdienst, eines Frühlings, den er sich lobe. Die Herren wüßten, daß er gegen die Welt hier oben manches auf dem Herzen habe, sooft er es sich bereits davon heruntergeredet. Ehre jedoch dem Hochgebirgsfrühling! – vorübergehend vermöge er ihn mit allen Greueln dieser Sphäre zu versöhnen. Da fehle alles Verwir-rende und Aufreizende des Frühlings der Ebene. Kein Gebrodel in der Tiefe! Keine feuchten Düfte, kein schwüler Dunst! Sondern Klarheit, Trockenheit, Heiterkeit und derbe Anmut. Es sei nach seinem Herzen, es sei süperb!
Sie gingen in unregelmäßiger Reihe, nebeneinander alle vier, so weit es möglich war, aber bald, wenn Entgegenkommende vorbeigingen, mußte Settembrini, der den rechten Flügel hielt, auf die Fahrstraße treten, bald löste ihre Front durch das Zu-rückbleiben und Einlenken einzelner Glieder, Naphtas etwa, linkerseits, oder Hans Castorps, der den Platz zwischen dem Humanisten und Vetter Joachim hatte, sich vorübergehend auf. Naphta lachte kurz, mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim