hier viel öfter Kongruenz als Inkongruenz sich nachweisen ließe, ist bereits mit den Ausführungen des zweiten Kapitels über die Ungleichmäßigkeiten gegeben, welche selbst zwischen den einzelnen körperlichen Teilen und Qualitäten des nämlichen Individuums untereinander betreffs des Grades ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit bestehen.
Das Nebeneinander von Männlichem und Weiblichem im gleichen Menschen ist hiebei nicht als völlige oder annähernde Simultaneität zu verstehen. Die wichtige neue Hinzufügung, welche an dieser Stelle notwendig wird, ist nicht nur eine erläuternde Anweisung zur richtigen psychologischen Verwertung des Prinzipes, sondern auch eine bedeutungsvolle Ergänzung der früheren Ausführungen. Es schwankt oder oszilliert nämlich jeder Mensch zwischen dem Manne und dem Weibe in ihm hin und her; wenn auch diese Oszillationen bei dem einen abnorm groß, bei dem anderen klein bis zur Unmerklichkeit sein können, sie sind immer da und offenbaren sich, wenn sie von einiger Erheblichkeit sind, auch durch ein wechselndes körperliches Aussehen der von ihnen Betroffenen. Diese Schwankungen der sexuellen Charakteristik zerfallen, den Schwankungen des Erdmagnetismus vergleichbar, in regelmäßige und unregelmäßige. Die regelmäßigen sind entweder kleine Oszillationen: z. B. fühlen manche Menschen am Abend männlicher als am Morgen; oder sie gehören in das Reich der größeren und großen Perioden des organischen Lebens, auf die man kaum erst aufmerksam zu werden begonnen hat, und deren Erforschung Licht auf eine noch gar nicht absehbare Menge von Phänomenen werfen zu sollen scheint. Die unregelmäßigen Schwankungen werden wahrscheinlich durch äußere Anlässe, vor allem durch den sexuellen Charakter des Nebenmenschen, hervorgerufen. Sie bedingen gewiß zum Teile jene merkwürdigen Phänomene der Einstellung, welche in der Psychologie einer Menge die größte Rolle spielen, wenn sie auch bis jetzt kaum die gebührende Beachtung gefunden haben. Kurz, die Bisexualität wird sich nicht in einem einzigen Augenblicke, sondern kann sich psychologisch nur im Nacheinander offenbaren, ob nun diese Differenz der sexuellen Charakteristik in der Zeit dem Gesetze einer Periodizität gehorche oder nicht, ob die Schwingung nach der Seite des einen Geschlechtes hin eine andere Amplitude habe als die Schwingung nach dem anderen Geschlechte hin, oder ob der männliche dem weiblichen Schwingungsbauche gleich sei (was durchaus nicht der Fall zu sein braucht, im Gegenteile nur ein Fall unter unzähligen gleich möglichen ist).
Man dürfte also wohl bereits prinzipiell, noch vor der Erprobung durch den ausgeführten Versuch, zuzugeben geneigt sein, daß das Prinzip der sexuellen Zwischenformen eine bessere charakterologische Beschreibung der Individuen ermöglicht, indem es das Mischungsverhältnis zu suchen auffordert, in dem Männliches und Weibliches in jedem einzelnen zusammentreten, und die Elongation der Oszillationen zu bestimmen gebietet, deren ein Individuum nach beiden Seiten hin fähig ist. Wir geraten aber nun vor eine Frage, bezüglich welcher die Darstellung sich hier entscheiden muß, indem von ihrer Beantwortung der Gang der weiteren Untersuchung fast ausschließlich abhängt. Es handelt sich darum, ob diese zuerst das unendlich reiche Gebiet der sexuellen Zwischenstufen, die sexuelle Mannigfaltigkeit im Geistigen, durchmessen und an besonders geeigneten Punkten zu möglichst getreuen Aufnahmen der Verhältnisse zu gelangen suchen soll, oder ob sie damit zu beginnen hat, die sexuellen Typen festzulegen, die psychologische Konstruktion des »idealen Mannes« und des »idealen Weibes« vorzunehmen und zu vollenden, bevor sie die verschiedenen Möglichkeiten ihrer empirischen Vereinigung in concreto untersucht und prüft, wie weit die auf deduktivem Wege gewonnenen Bilder sich mit der Wirklichkeit decken. Der erste Weg entspricht der Entwicklung, welche die Gedanken nach der allgemeinen Anschauung psychologisch immer nehmen, indem die Ideen aus der Wirklichkeit, die sexuellen Typen nur aus der allein realen sexuellen Mannigfaltigkeit geschöpft werden können: er wäre induktiv und analytisch. Der zweite würde vor dem ersten den Vorzug der formal logischen Strenge haben: er wäre deduktiv-synthetisch.
Diesen anderen Weg habe ich aus dem Grunde nicht einschlagen wollen, weil die Anwendung zweier bereits wohl definierter Typen auf die konkrete Wirklichkeit jedermann leicht in voller Selbständigkeit machen kann, indem sie nur die (für jeden Fall ohnedies stets neu und besonders zu gewinnende) Kenntnis des Mischungsverhältnisses beider voraussetzt, um schon die Möglichkeit zu gestatten, Theorie und Praxis zur Deckung zu bringen; sodann weil (gesetzt auch, es würde die außerhalb der Kompetenz des Verfassers liegende Form historisch-biographischer Untersuchung gewählt) Gesagtes immerfort zu wiederholen wäre, und dem Interesse an den Einzelpersonen aller, der Theorie kein Gewinn mehr aus dieser Verzweigung ins Detail erwüchse. Der erste, der induktive Weg ist darum nicht gangbar, weil in diesem Falle die Menge der Wiederholungen auf den Teil entfiele, welcher die Tafel der Gegensätze der sexuellen Typen entrollen würde, und zudem das vorhergehende Studium der sexuellen Zwischenstufen und die es begleitende Präparation der Typen langwierig, zeitraubend und ohne Nutzen für den Leser wäre.
Eine andere Erwägung mußte also die Einteilung bestimmen.
Da die morphologische und physiologische Erforschung der sexuellen Extreme nicht meine Sache war, wurde nur das Prinzip der Zwischenformen, dieses aber nach allen Seiten hin, denen es Aufklärung bringen zu können schien, also auch vom biologischen Standpunkte aus behandelt. So bekam das Ganze der vorliegenden Arbeit seine Gestalt. Die eben erwähnte Betrachtung der Zwischenstufen bildet ihren ersten Teil, während der zweite die rein psychologische Analyse von M und W in Angriff nehmen und so weit und tief als möglich fortzuführen trachten wird. Die konkreten Fälle wird sich, in Anwendung der eventuell daselbst zu gewinnenden Erkenntnisse, ein jeder selbsttätig immer zusammensetzen und sie mit den dort zu gewinnenden Anschauungen und Begriffen leicht abbilden können. Dieser zweite Teil wird sich auf die bekannten und gangbaren Meinungen über die geistigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur sehr wenig stützen können. Hier jedoch will ich, bloß der Vollständigkeit halber und ohne der Sache eine besondere Wichtigkeit beizumessen, die sexuellen Zwischenstufen des psychischen Lebens in aller Kürze an einigen Punkten auftreten lassen, Punkten, die nur ein paar insgemein bekannte Eigentümlichkeiten, welche hier noch keiner näheren Analyse unterzogen werden sollen, in einigen Modifikationen sichtbar werden lassen.
Weibliche Männer haben oft ein ungemein starkes Bedürfnis zu heiraten, mögen sie (was ich erwähne, um Mißverständnissen vorzubeugen) materiell noch so glänzend gestellt sein. Sie sind es auch, die, wenn sie können, fast immer sehr jung in die Ehe treten. Es wird ihnen oft besonders schmeicheln, eine berühmte Frau, eine Dichterin oder Malerin, die aber auch eine Sängerin oder Schauspielerin sein kann, zur Gattin zu haben.
Weibliche Männer sind ihrer Weiblichkeit gemäß auch körperlich eitler als die anderen unter den Männern. Es gibt auch »Männer«, die auf die Promenade gehen, um ihr Gesicht, welches, als Weibergesicht, die Absicht seines Trägers meist hinreichend verrät, bewundert zu fühlen und dann befriedigt nach Hause zu gehen. Das Urbild des Narciß ist ein solcher »Mann« gewesen. Dieselben Personen sind natürlich auch, was Frisur, Kleidung, Schuhwerk, Wäsche anlangt, ungemein sorgfältig, ihrer momentanen Körperhaltung und ihres Aussehens an jedem bestimmten Tage, der kleinsten Einzelheiten ihrer Toilette, des vorübergehendsten Blickes, der von anderer Menschen Augen auf sie fällt, sich fast ebenso bewußt, wie W es stets ist, ja in Gang und Geberde oft geradezu kokett. Bei den Viragines hingegen nimmt man oft grobe Vernachlässigung der Toilette und Mangel an Körperpflege wahr; sie sind mit dem Ankleiden oft viel schneller fertig als mancher weibliche Mann. Das ganze »Gecken«– oder »Gigerl«tum geht, ebenso wie zum Teile die Frauenemanzipation, auf die jetzige Vermehrung dieser Zwittergeschöpfe zurück; das ist alles mehr als »bloße Mode«. Es fragt sich eben immer, warum etwas zur Mode werden kann, und es gibt wohl überhaupt weniger »bloße Mode«, als der oberflächlich kritisierende Zuschauer wähnt.
Je mehr von W eine Frau hat, desto weniger wird sie den Mann verstehen, umso stärker jedoch wird er in seiner geschlechtlichen Eigentümlichkeit auf sie wirken, um so mehr Eindruck als Mann auf sie machen. Dies ist nicht nur aus dem bereits erläuterten Gesetze der sexuellen Anziehung zu verstehen, sondern geht darauf zurück, daß eine Frau um so eher ihr Gegenteil aufzufassen in der Lage sein wird, je reiner weiblich sie ist. Umgekehrt wird einer, je mehr von M er hat, desto weniger W zu verstehen in der Lage sein, desto eindringlicher jedoch werden die Frauen ihrem ganzen äußeren Wesen nach, in ihrer Weiblichkeit, sich ihm darstellen. Die sogenannten »Frauenkenner«, d. h. solche, die nichts mehr sind als nur »Frauenkenner«, sind darum alle zum guten Teile selbst Weiber. Die weiblicheren Männer wissen denn auch oft die Frauen viel besser zu behandeln