Mensch die Physiognomik anerkennt, insoferne jeder, unabhängig von der Erfahrung, Physiognomik treibt. So wenig Kant diese Tatsache bemerkt hat, so gibt sie doch seiner Auffassung recht, daß über das Verhältnis des Körperlichen zum Geistigen sich weiter wissenschaftlich nichts beweisen noch ausmachen läßt. Das Prinzip einer gesetzmäßigen Relation zwischen Psychischem und Materiellem muß daher als Forschungsgrundsatz heuristisch acceptiert werden, und es bleibt der Metaphysik und Religion vorbehalten, über die Art dieses Zusammenhanges, dessen Tatsächlichkeit a priori für jeden Menschen feststeht, noch nähere Bestimmungen zu treffen.
Ob nun Charakterologie in einer Verbindung mit Morphologie gehalten werde oder nicht, für sie allein wie für das Resultat des koordinierten Betriebes beider, für die Physiognomik, dürfte es Geltung haben, daß die beinahe gänzliche Erfolglosigkeit der bisherigen Versuche zur Begründung solcher Wissenschaften zwar auch sonst tief genug in der Natur des schwierigen Unternehmens wurzelt, daß aber immerhin dem Mangel an einer adäquaten Methode nicht zum geringsten Teile dieses Mißlingen zugeschrieben werden muß. Dem Vorschlag, den ich im folgenden an Stelle einer solchen entwickle, verdanke ich die sichere Leitung durch manches Labyrinth; ich glaube daher nicht zögern zu sollen, ihn einer allgemeinen Beurteilung zu unterbreiten.
Die einen unter den Menschen haben die Hunde gern und können die Katzen nicht ausstehen, die anderen sehen nur gerne dem Spiel der Kätzchen zu, und der Hund ist ihnen ein widerliches Tier. Man ist in solchen Fällen, und mit vielem Rechte, stets sehr stolz darauf gewesen, zu fragen: Warum zieht der eine die Katze vor, der andere den Hund? Warum? Warum?
Diese Fragestellung scheint jedoch gerade hier nicht sehr fruchtbar. Ich glaube nicht, daß Hume, und besonders Mach recht haben, wenn sie keinen besonderen Unterschied zwischen simultaner und succedaner Kausalität machen. Gewisse zweifellose formale Analogien werden da recht gewaltsam übertrieben, um den schwanken Bau des Systems zu stützen. Das Verhältnis zweier Erscheinungen, die in der Zeit regelmäßig aufeinanderfolgen, mit einer regelmäßigen Funktionalbeziehung verschiedener gleichzeitiger Elemente zu identifizieren, geht nicht an: Nichts berechtigt in Wirklichkeit, von Zeitempfindungen zu sprechen, und gar nichts, einen den anderen Sinnen koordinierten Zeitsinn anzunehmen; und wer wirklich das Zeitproblem erledigt glaubt, wenn er die Zeit und den Stundenwinkel der Erde nur eine und dieselbe Tatsache sein läßt, der übersieht zum wenigsten dies, daß, sogar im Falle als die Erde plötzlich mit ungleichförmiger Geschwindigkeit um ihre Achse sich zu drehen anfinge, wir doch nach wie vor die eben apriorische Voraussetzung eines gleichförmigen Zeitablaufes machen würden. Die Unterscheidung der Zeit von den materialen Erlebnissen, auf welcher die Trennung der succedanen von der simultanen Abhängigkeit beruht, und damit die Frage nach der Ursache von Veränderungen, die Frage nach dem Warum sind wohlberechtigt und fruchtbringend, wo Bedingendes und Bedingtes in zeitlicher Abfolge nacheinander auftreten. In dem oben als Beispiel individualpsychologischer Fragestellung angeführten Falle jedoch sollte man in der empirischen Wissenschaft, welche als solche das regelmäßige Zusammensein einzelner Züge in einem Komplexe keineswegs durch die metaphysische Annahme einer Substanz erklärt, nicht sowohl nach dem Warum forschen, sondern zunächst untersuchen: Wodurch unterscheiden sich Katzen- und Hundeliebhaber noch?
Die Gewöhnung, stets diese Frage nach den korrespondierenden anderen Unterschieden zu stellen, wo zwischen Ruhendem ein Unterschied bemerkt worden ist, wird nicht nur der Charakterologie, wie ich glaube, von großem Nutzen sein können, sondern auch der reinen Morphologie und somit naturgemäß die Methode ihrer Verbindung, der Physiognomik, werden. Aristoteles ist es bereits aufgefallen, daß viele Merkmale bei den Tieren nie unabhängig voneinander variieren. Später haben, zuerst bekanntlich Cuvier, sodann Geoffroy St. Hilaire und Darwin diese Erscheinungen der »Korrelation« zum Gegenstande eingehenden Studiums gemacht. Das Bestehen konstanter Beziehungen kann hie und da leicht aus einem einheitlichen Zwecke verstanden werden: so wird man es teleologisch geradezu erwarten, daß, wo der Verdauungskanal für Fleischnahrung adaptiert ist, auch Kauapparate und Organe für das Ergreifen von Beute vorhanden sein müssen. Warum aber alle Wiederkäuer auch Zweihufer und im männlichen Geschlechte Hörnerträger sind, warum Immunität gegen gewisse Gifte bei manchen Tieren stets mit einer bestimmten Haarfarbe einhergeht, warum unter den Tauben die Spielarten mit kurzem Schnabel kleine, die mit langem Schnabel große Füße haben, oder gar, warum weiße Katzen mit blauen Augen immer taub sind, solche Regelmäßigkeiten des Nebeneinander sind weder aus einem einzigen offenbaren Grunde noch auch unter dem Gesichtspunkte eines einheitlichen Zweckes zu begreifen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Forschung nun prinzipiell in alle Ewigkeit mit der bloßen Konstatierung eines steten Beisammenseins sich zu begnügen habe. Das wäre ja so, als würde jemand zum ersten Male wissenschaftlich vorzugehen behaupten, indem er sich darauf beschränke, vorzufinden: »Wenn ich in einen Automaten ein Geldstück werfe, so kommt eine Schachtel Zündhölzer heraus«; was darüber gehe, sei Metaphysik und von Übel, das Kriterium des echten Forschers sei Resignation. Probleme der Art, woher es komme, daß langes Kopfhaar und zwei normale Ovarien sich fast ausnahmslos in denselben Menschen vereinigt finden, sind von der größten Bedeutung; aber sie fallen eben nicht in den Bereich der Morphologie, sondern in den der Physiologie. Vielleicht ist ein Ziel einer idealen Morphologie mit der Anschauung gut bezeichnet, daß diese in einem deduktiv-synthetischen Teile nicht jeder einzeln existierenden Art und Spielart nachkriechen solle in Erdlöcher und nachtauchen auf den Meeresgrund – das ist die Wissenschaftlichkeit des Briefmarkensammlers – sondern aus einer vorgegebenen Anzahl qualitativ und quantitativ genau bestimmter Stücke in der Lage sein werde, den ganzen Organismus zu konstruieren, nicht auf Grund einer Intuition, wie dies ein Cuvier vermochte, sondern in strengem Beweisverfahren. Ein Organismus nämlich, von dem man ihr irgend eine Eigenschaft genau bekanntgegeben hätte, müßte für diese Wissenschaft der Zukunft bereits noch durch eine andere, nun nicht mehr willkürliche, sondern damit in ebensolcher Genauigkeit bereits bestimmbare Eigenschaft beschränkt sein. In der Sprache der Thermodynamik unserer Tage ließe sich das ebensogut durch die Forderung ausdrücken, daß für eine solche deduktive Morphologie der Organismus nur eine endliche Zahl von »Freiheitsgraden« besitzen dürfte. Oder man könnte, eine lehrreiche Ausführung Machs benützend, verlangen, daß auch die organische Welt, sofern sie wissenschaftlich begreifbar und darstellbar, eine solche sei, in der zwischen n Variablen eine Zahl von Gleichungen bestehe, die kleiner sei als n (und zwar gleich n-1, wenn sie durch ein wissenschaftliches System eindeutig bestimmbar sein soll; die Gleichungen würden bei geringerer Zahl zu unbestimmten Gleichungen werden, und bei einer größeren Zahl könnte der durch eine Gleichung ausgesagten Abhängigkeit von einer zweiten ohne weiters widersprochen werden).
Dies ist die logische Bedeutung des Korrelationsprinzipes in der Biologie: es enthüllt sich als die Anwendung des Funktionsbegriffes auf das Lebendige, und darum liegt in der Möglichkeit seiner Ausbreitung und Vertiefung die Hoffnung auf eine theoretische Morphologie hauptsächlich begründet. Die kausale Forschung ist damit nicht ausgeschlossen, sondern erst auf ihr eigenstes Gebiet verwiesen. Im Idioplasma wird sie wohl die Gründe jener Tatsachen aufzufinden trachten müssen, die dem Korrelationsprinzipe zu Grunde liegen.
Die Möglichkeit einer psychologischen Anwendung des Prinzipes der korrelativen Abänderung liegt nun in der »differentiellen Psychologie«, in der psychologischen Varietätenlehre, vor. Und die eindeutige Zuordnung von anatomischem Habitus und geistigem Charakter wird zur Aufgabe der statischen Psychophysik oder Physiognomik. Die Forschungsregel aller drei Disziplinen wird aber die Frage zu sein haben, worin sich zwei Lebewesen, die in einer Beziehung ein differentes Verhalten gezeigt haben, noch unterscheiden. Die hier geforderte Art der Fragestellung scheint mir der einzig denkbare »Methodus inveniendi«, gleichsam die »Ars magna« jener Wissenschaften, und geeignet, die ganze Technik des Betriebes derselben zu durchdringen. Man wird nun, um einen charakterologischen Typus zu ergründen, nicht mehr bloß durch die nur bohrende Frage nach dem Warum, unter möglichst hermetischer Absperrung, in einem Loche hartes Erdreich aufzugraben sich mühen, nicht wie jene stereotropischen Würmer Jacques Loebs an einem Dreikant immer von neuem sich verbluten, nicht durch Scheuklappen die Aussicht auf das erreichbare Daneben sich versperren, um geradeaus in der Tiefendimension dem aller nur empirischen Wissenschaft unerforschlichen Grunde nachzuschnaufen. Wenn jedesmal, ohne irgend welche Nachlässigkeit oder Rücksicht auf Bequemlichkeit, beim Sichtbarwerden einer Differenz der Vorsatz gefaßt wird, auf die anderen Differenzen zu achten, die nach dem Prinzipe unausweichlich noch da sein müssen;