mir eine Seele begegnet, und nun plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten Dickicht entgegen!
Ja, ich bin′s.
Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für eine Dryade, die aus den Zweigen gefallen.
Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. – Wo kommst denn du her?
Ich gehe meinen Gedanken nach.
Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie selbst mitgehn, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer noch, und die steigt nicht gern. – So bin ich denn allein heraufgekommen.
Hast du deinen Waldmeister schon?
Den ganzen Korb voll. Drüben unter den Buchen steht er dicht wie Mattenklee. – Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?
Eben halb vier vorbei. – Wann erwartet man dich?
Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine ganze Weile am Goldbach im Moose und habe geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich fürchtete, es wolle schon Abend werden.
Wenn man dich noch nicht erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig lagern. Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch die Äste in den Himmel starrt, wird man hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der Morgensonne. – Schon seit Wochen wollte ich dich etwas fragen, Wendla.
Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.
Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den Korb und wir schlagen den Weg durch die Runse ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke! – Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt, kommen einem die sonderbarsten Gedanken …
(Beide lagern sich unter der Eiche.)
Was wolltest du mich fragen, Melchior?
Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe oder schickt deine Mutter dich?
Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. – Aber wie kommst du darauf?
Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich sowohin schickt?
O für mein Leben gern! – Wie kannst du fragen!
Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest …
Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst recht gehen!
Wieso erst recht, Wendla?
Ich würde erst recht hingehen. – Es würde nur noch vielmehr Freude bereiten, ihnen helfen zu können.
Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten?
Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.
Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen?
Kann ich denn dafür, daß es mir Freude macht?
Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! – So ist es also richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! – Kann der Geizige dafür, daß es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen?
O dir würde es sicher die größte Freude sein!
Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! – Ich werde eine Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist die Veranlassung. Was faselt er uns von Opfer-Freudigkeit! – Wenn er mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und lasse mich nicht konfirmieren.
Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch konfirmieren; den Kopf kostet′s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür begeistern können.
Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! – Ich sehe die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und stöhnen – ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. – — Was hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst?
– — Dummheiten – Narreteien —
Mit offenen Augen?!
Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde früh fünf schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm′ ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd′ ich geschlagen – geschlagen —
Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub′ mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.
O doch, Melchior, du irrst. – Martha Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden muß! Siedendheiß wird es einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. – Ich wollte mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.
Man sollte den Vater kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind weggenommen.
Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen worden – nicht ein einziges Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie einem dabei ums Herz wird. – Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.
Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch besser wird.
Wodurch besser wird?
Daß man es schlägt.
– Mit dieser Gerte zum Beispiel! – Hu, ist die zäh und dünn.
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