stand in seiner Uniform vor der Scheherazade und öffnete die Tür des Taxis. Ravic stieg aus. Morosow lächelte an. «Ich dachte, du wolltest nicht kommen?» «Das wollte ich auch nicht.»
«Ich habe ihn gezwungen, Boris.» Kate Hegström umarmte Morosow. «Gottlob, daß ich wieder zurück bin bei euch!»
«Sie haben eine russische Seele, Katja. Der Himmel weiß, warum Sie in Boston geboren werden mußten. Komm, Ravic.» Morosow stieß die Tür zum Eingang auf. «Der Mensch ist groß in seinen Vorsätzen, aber schwach in der Ausführung[3]. Darin liegt unser Elend und unser Scharm.»
Die Scheherazade war wie ein kaukasisches Zelt eingerichtet. Die Kellner waren Russen in roten Tscherkessenuniformen. Das Orchester bestand aus russischen und rumänischen Zigeunern. Man saß an kleinen Tischen, die vor einer Bankette standen, die an der Wand entlanglief. Der Raum war dunkel und ziemlich besetzt.
«Was wollen Sie trinken, Kate?» fragte Ravic.
«Wodka. Und die Zigeuner sollen spielen. Ich habe genug vom ›Wiener Wald‹ im Parademarsch.» Sie zog zog die Füße ohne Schuhe auf die Bankette. «Ich bin jetzt nicht mehr müde, Ravic», sagte sie. «Ein paar Stunden Paris haben mich schon verändert. Aber mir ist immer noch, als wäre ich aus einem Konzentrationslager entkommen. Können Sie sich das vorstellen?»
Ravic sah sie an. «So ungefähr», sagte er.
Der Tscherkesse brachte eine kleine Flasche Wodka und die Gläser. Ravic füllte sie und gab eines an Kate Hegström. Sie trank es rasch und durstig und stellte es zurück. Dann sah sie sich um. Das weiche Licht unter der Tischplatte erleuchtete ihr Gesicht. «Warum, Ravic? Nachts wird alles farbiger. Nichts erscheint einem mehr schwer, man glaubt, alles zu können, und was man nicht erreichen kann, füllt man mit Träumen aus. Warum?»
Er lächelte. «Wir haben unsere Träume, weil wir ohne sie die Wahrheit nicht ertragen könnten.»
Das Orchester begann zu stimmen. «Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich mit Träumen betrügen würden», sagte Kate.
«Man kann sich auch mit der Wahrheit betrügen. Das ist ein noch gefährlicherer Traum.»
Das Orchester fing an zu spielen. Der Zigeuner kam an den Tisch.
Kate Hegström fühlte die Melodie auf ihrer Haut. Der Zigeuner verbeugte sich. Ravic schob ihm unter dem Tisch einen Schein in die Hand. Kate Hegström rührte sich in ihrer Ecke. «Waren Sie einmal glücklich, Ravic?»
«Oft.»
«Das meine ich nicht. Ich meine richtig glücklich. Atemlos, besinnungslos, mit allem, was Sie haben.»
«Oft , Kate», sagte er und meinte etwas ganz anderes und wußte, auch das war es nicht.
«Sie wollen mich nicht verstehen. Oder nicht darüber sprechen. Wer singt da jetzt mit dem Orchester?»
«Ich weiß es nicht. Ich war lange nicht hier.»
«Man kann die Frau von hier nicht sehen. Sie ist nicht mit den Zigeunern. Sie muß irgendwo an einem Tisch sitzen.»
«Dann ist es wahrscheinlich ein Gast. Das passiert hier oft .»
«Eine sonderbare Stimme», sagte Kate Hegström. «Traurig und rebellisch in einem.»
«Das sind die Lieder.»
«Oder ich bin es. Verstehen Sie, was sie singt?»
«Ja wass loubill» – «ich habe dich geliebt. Ein Lied von Puschkin.»
«Können Sie Russisch?»
«Nur so viel, wie Morosow mir beigebracht hat. Meistens Schimpfwörter. Russisch ist eine hervorragende Sprache für Schimpfwörter»
«Sie sprechen nicht gern über sich?»
«Ich denke sogar nicht gern über mich nach.»
Sie saß eine Weile und schwieg.
«Das ist aber nicht mehr russisch», sagte sie dann und horchte zu der Musik hinüber.
«Nein. Das ist italienisch. Santa Lucia Luntana.»
Der Scheinwerfer wanderte vom Geiger zu einem Tisch neben dem Orchester hinüber. Ravic sah die Frau jetzt, die sang. Es war Joan Madou. Sie saß allein an dem Tisch, einen Arm aufgestützt, und blickte vor sich hin, als wäre sie in Gedanken und außer ihr niemand da. Ihr Gesicht war sehr bleich in dem weißen Licht. Es hatte nichts mehr von dem verwischten Ausdruck, den er kannte. Es war plötzlich von einer aufregenden, verlorenen Schönheit. Er erinnerte sich, er hatte sie einmal schon so gesehen– nachts in ihrem Zimmer . Jetzt war es ganz da, und es war noch mehr da.
«Was ist los, Ravic?» fragte Kate Hegström.
Er wandte sich um. «Nichts. Ich kenne nur das Lied. »
«Erinnerungen.»
«Nein. Ich habe keine Erinnerungen.»
Er sagte es heftiger, als er wollte. Kate Hegström sah ihn an. «Manchmal möchte ich wissen, was mit Ihnen los ist, Ravic.»
«Nicht mehr als mit jedem anderen. Hier ist ein neuer Wodka für Sie, Kate. »
Das Orchester begann einen Blues zu spielen. Es spielte Tanzmusik ziemlich schlecht. Ein paar Gäste begannen zu tanzen. Joan Madou stand auf und ging dem Ausgang zu. Sie ging, als wäre das Lokal leer. Ravic fiel plötzlich ein, was Morosow über sie gesagt hatte. Sie kam ziemlich nahe an seinem Tisch vorbei. Es schien ihm, als hätte sie ihn gesehen; aber ihr Blick glitt gleich darauf gleichgültig über ihn hinweg, und sie verließ den Raum.
«Kennen Sie die Frau?» fragte Kate Hegström, die ihn beobachtet hatte.
«Nein.»
8
«Sehen Sie das, Veber?» fragte Ravic. «Hier – und hier – und hier…»
Ravic richtete sich auf. «Krebs», sagte er. «Klarer, Krebs! Das ist die verfluchteste Operation, die ich seit langem gemacht habe. Aber wir können nicht von unten arbeiten, müssen schneiden, und plötzlich finden wir Krebs.»
Veber sah ihn an. «Was wollen Sie machen?»
«Wir müssen weiterschneiden. Den Hysterektomieschnitt[4] machen», sagte Ravic. «Keinen Sinn, was anderes zu tun. Das verdammte ist nur, daß sie es nicht weiß. Wie ist der Puls?» fragte er die Narkoseschwester.
«Regelmäßig. Neunzig.»
«Blutdruck?»
«Hundertzwanzig.»
«Gut.» Ravic sah auf den Körper Kate Hegströms, der auf dem Operationstisch lag. «Sie müßte es vorher wissen. Sie müßte einverstanden sein. Wir können nicht so einfach in ihr herumschneiden. – Oder können wir?»
«Nach dem Gesetz nicht. Sonst … wir haben ja schon angefangen.»
«Das mußten wir. Die Ausschabung[5] war nicht von unten zu machen. Dies hier ist eine andere Operation. Eine Gebärmutter herausnehmen, ist etwas anderes als eine Auskratzung[6].»
«Ich glaube, sie vertraut Ihnen, Ravic.»
«Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber ob sie einverstanden wäre …?» Messer, Eugenie.» Er machte den Schnitt bis zum Nabel .
«Sehen Sie hier, Veber … und hier …. Die dicke, harte Masse. Es ist schon zu weit.»
Veber starrte auf die Stelle, die Ravic ihm zeigte. «Sehen Sie das hier», sagte Ravic. «Wir können die Arterien nicht mehr abklammern. Hoffnungslos …»
Er löste vorsichtig ein schmales Stück los. «Ist Boisson im Laboratorium?»
«Ja», sagte die Krankenschwester. «Er wartet schon.»
«Gut. Schicken Sie es hinüber. Wird nicht länger als zehn Minuten dauern.»
«Sagen Sie ihm, er