Ich glaube, Veber, wir brauchen jetzt nicht mehr nachzudenken, ob wir ohne Zustimmung operieren sollen oder nicht. Hier ist nichts mehr zu tun.»
Veber nickte.
«Zunähen», sagte Ravic. «Das Kind wegnehmen, das ist alles. Zunähen und nichts sagen.»
Er stand einen Moment und sah auf den Körper unter den weißen Tüchern. Das grelle Licht machte die Tücher noch weißer, wie frischer Schnee. Kate Hegström, vierunddreißig Jahre alt, kapriziös, schmal, braun, trainiert, voll von Willen zum Leben – zum Tode verurteilt durch Krebs , der ihre Zellen zerstört hatte. Er beugte sich wieder über den Körper. «Wir müssen ja noch …»
Das Kind. In diesem zerfallenen Körper wuchs ja noch ein Leben heran. Verurteilt mit ihm. Irgend etwas, das einmal spielen wollte in Gärten, das irgend etwas werden wollte, Ingenieur, Priester, Soldat, Mörder, Mensch, etwas, das leben, leiden, glücklich sein wollte und zerbrechen … vorsichtig ging das Instrument– fand den Widerstand, brach ihn behutsam, brachte ihn heraus – vorbei. Nichts mehr als etwas totes Fleisch und Blut.
Das Telefon klingelte von unten. Veber blickte zur Tür. Ravic sah nicht hin. Er wartete. Er hörte die Tür. Die Schwester kam herein. «Ja», sagte Veber.
«Krebs.»
Ravic nickte und begann weiterzuarbeiten. Neben ihm zählte Eugenie die Instrumente. Er begann zu nähen. Fein, methodisch, genau, völlig konzentriert und ohne jeden Gedanken.
«Fertig.»
Eugenie kurbelte mit dem Fuß den Tisch wieder horizontal und deckte Kate Hegström zu. Scheherazade, dachte Ravic, vorgestern, ein Kleid von Mainbocher, waren Sie einmal glücklich, oft , ich habe Angst, eine Routinesache; die Zigeuner spielen. – Er sah auf die Uhr über der Tür. Zwölf. Mittag. Draußen öffneten sich jetzt die Büros und Fabriken, und gesunde Leute beeilen sich.
Die beiden Schwestern schoben den flachen Wagen aus dem Operationssaal heraus. Ravic riß die Gummihandschuhe von den Händen, ging in den Waschraum und begann sich zu waschen.
«Ihre Zigarette», sagte Veber, der sich neben ihm an dem zweiten Becken wusch.
«Sie verbrennen sich die Lippen.»
«Ja. Danke. Wer wird es ihr nur sagen, Veber?»
«Sie», erklärte Veber.
«Wir müssen ihr erklären, warum wir geschnitten haben. Sie hatte erwartet, wir würden es von innen machen. Wir können ihr nicht sagen, was es wirklich war.»
«Es wird Ihnen schon etwas einfallen», sagte Veber.
«Sie haben ja bis heute abend Zeit.Sie weiß, daß Sie sie operiert haben, und wird es von Ihnen wissen wollen. Sie würde nur unruhig werden, wenn ich käme.»
«Stimmt.»
«Ich verstehe nicht, wie es sich in so kurzer Zeit entwickeln konnte.»
«Es kann. Ich wollte, ich wüßte, was ich sagen soll.»
«Ihnen wird schon etwas einfallen, Ravic. Irgendeine Zyste oder ein Myom.»
«Ja», sagte Ravic. «Irgendeine Zyste oder ein Myom.»
Nachts ging er noch einmal zur Klinik. Kate Hegström schlief. Sie war abends aufgewacht, hatte erbrochen, ungefähr eine Stunde unruhig gelegen und war dann wieder eingeschlafen.
«Hat sie irgend etwas gefragt?»
«Nein», sagte die rotbackige Schwester.
«Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen. Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an.»
Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam. «Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.»
Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas dagegen. Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur bestellt? Er winkte dem Kellner. «Einen fine.» Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen. Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren seines Lebens.
Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern. Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall – eine Granate, die mitten ins Feuer geschlagen hatte –; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei seiner Kameraden tot – und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule besuchte– er lag da, den Magen und den Bauch aufgerissen … Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett, den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide gepreßt, den Mund offen, die Augen verständnislos starr. Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er. Ravic erinnerte sich, wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. «Komm mit», hatte er gesagt. «In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst auch.» Er hatte ihn angestarrt. Wie konnte es sein? Katczinsky hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: «Du kommst mit. Du wirst heute fressen und saufen.» Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt. «Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für Meßmann tun? – Nein. – Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine Chance da wäre, ihn zu retten?» – Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er wußte das von Katczinsky.
«Gut. Er ist tot. Wir können nichts mehr machen. Aber in zwei Tagen müssen wir wieder ’raus und nach vorn. Diesmal wird es nicht so ruhig da sein. Wenn du jetzt hier hockst und an Meßmann denkst, frißt du es in dich ’rein. Es macht deine Nerven kaputt, wirst unsicher. Gerade genug vielleicht, daß du beim nächsten Feuerüberfall draußen nicht schnell genug bist. Halbe Sekunde zu spät. Dann schleppen wir dich wie Meßmann zurück. Wem nützt das? Meßmann? Nein. Jemand anderem? Nein. Dich haut es um, das ist alles. Verstehst du nun?» – «Ja, aber ich kann nicht.» – «Halt’s Maul, du kannst! Andere haben es auch gekonnt. Du bist nicht der erste.» Es war besser geworden nach dieser Nacht. Er war mitgegangen, er hatte seine erste Lektion gelernt. Hilf, wenn du kannst – tu alles dann –; aber wenn du nichts mehr tun kannst, vergiß! Dreh dich um! Halt dich fest! Mitleid ist etwas für ruhige Zeiten. Nicht, wenn es ums Leben geht.
Begrabe die Toten und friß das Dasein! Du wirst es noch brauchen müssen. Trauer ist eines, Tatsachen sind ein anderes. Man trauert nicht weniger, wenn man trotzdem die Tatsachen sieht und anerkennt. Nur so überlebt man.
Ravic trank den Kognak aus. Die Franzosen am Nebentisch schwatzten immer noch über ihre Regierung. Ravic drückte seine Zigarette aus. Er blickte sich um. Was sollte das alles? Er winkte dem Kellner und zahlte.
Die Scheherazade war dunkel, als er eintrat. Die Zigeuner spielten, und nur das Licht des Scheinwerfers lag voll auf dem Tisch neben dem Orchester, an dem Joan Madou saß. Ravic blieb am Eingang stehen. Einer der Kellner kam heran und rückte ihm einen Tisch zurecht. Aber Ravic blieb stehen und sah zu Joan Madou hinüber.
«Wodka?»