Gesicht und ruhige, schwarze Augen. Das schwarze, puritanische Kleid, das sie trug, kennzeichnete sie als Aufseherin; es unterschied sie von den fast nackten Huren.
«Trink etwas mit mir, Rolande.» «Gut.»
Ravic holte ein Glas von der Bar und schenkte ein. Rolande hielt die Flasche zurück, als das Glas halb voll war. «Genug! Ich trinke nicht mehr.»
«Du brauchst ein Mädchen», sagte Rolande. «Ich kann Kiki telefonieren. Sie ist sehr gut. Einundzwanzig Jahre alt.»
«So. Auch einundzwanzig Jahre alt. Das ist heute nichts für mich.» Ravic goß sein Glas wieder voll. «Woran denkst du eigentlich, Rolande, bevor du einschläfst?»
«Meistens an gar nichts. Ich bin zu müde.»
«Und wenn du nicht zu müde bist?»
«An Tours.»
«Warum?»
«Eine Tante von mir hat da ein Haus mit einem Laden drin. Ich habe zwei Hypotheken darauf gegeben. Wenn sie stirbt – sie ist sechsundsiebzig –, bekomme ich das Haus.Ich will dann aus dem Laden ein Café machen. Helle Wände mit Blumenmustern, eine Kapelle, drei Mann: Klavier, Geige, Cello; im Hintergrund eine Bar. Klein und gut. Das Haus liegt in einem guten Viertel. Ich glaube, daß ich es mit neuntausendfünfhundert Franks ein» richten kann, mit den Vorhängen und Lampen sogar. Dann will ich noch fünftausend Franks in Reserve haben für die erste Zeit. Und natürlich die Mieten aus der ersten und zweiten Etage. Daran denke ich.»
«Bist du in Tours geboren?»
«Ja. Aber niemand weiß, wo ich seitdem war. Und wenn das Geschäft gut geht, wird auch niemand sich darum kümmern. Geld deckt alles zu.»
«Nicht alles. Aber vieles.»
Ravic fühlte die Schwere hinter den Augen, die die Stimme langsamer machte.
«Ich glaube, ich habe genug», sagte er und zog ein paar Scheine aus der Tasche. «Wirst du in Tours heiraten, Rolande?»
«Nicht gleich. Aber in ein paar Jahren. Ich habe einen Freund da.»
«Fährst du ab und zu hin?»
«Selten. Er schreibt mir manchmal. An eine andere Adresse natürlich. Er ist verheiratet, aber seine Frau ist im Hospital.
Tuberkulose. Höchstens noch ein bis zwei Jahre, sagen die Ärzte. Dann ist er frei.» Ravic stand auf. «Gott segne dich, Rolande. Du hast einen gesunden Menschenverstand.»
Sie lächelte ohne Mißtrauen. Sie fand, daß er recht hatte. Ihr klares Gesicht war nicht eine Spur müde. Es war frisch, als sei sie gerade aufgestanden. Sie wußte, was sie wollte. Das Leben hatte keine Geheimnisse für sie.
Draußen war es heller Tag geworden. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Portier war verschwunden, die Nacht fort» gewischt, der Tag hatte begonnen.
Die Frau hat sich erschrocken, schrie aber nicht.
«Ruhig, ruhig», sagte Ravic. «Ich bin es. Derselbe, der Sie vor ein paar Stunden hergebracht hat.»
Die Frau atmete wieder. Ravic sah sie nur undeutlich. «Wollen Sie frühstücken?» fragte er. Er hatte die Frau vergessen gehabt und dann geglaubt, als er seinen Schlüssel geholt hatte, sie sei schon gegangen. Er wäre sie gern losgeworden. Er hatte genug getrunken. Er wollte allein sein.
«Wollen Sie Kaffee?» fragte er. «Es ist das einzige, was hier gut ist.»
Die Frau schüttelte den Kopf. Er sah sie genauer an. «Ist was los? War jemand hier?»
«Nein.»
«Aber irgendwas muß doch los sein. Sie starren mich ja an wie ein Gespenst.»
Die Frau bewegte die Lippen. «Der Geruch», sagte sie dann.
«Geruch?» wiederholte Ravic verständnislos; «Wodka riecht doch nicht. Kirsch und Brandy auch nicht. Und Zigaretten rauchen Sie ja selbst. Was ist daran zu erschrekken?»
«Du lieber Himmel, es wird Äther sein», sagte Ravic, dem es auf einmal einfiel. «Ist es Äther?»
Sie nickte.
«Sind Sie einmal operiert worden?»
«Nein … es ist …»
Ravic hörte nicht mehr zu. Er öffnete das Fenster. «Wird gleich vorbei sein. Rauchen Sie eine Zigarette inzwischen.» – Er ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Im Spiegel sah er sein Gesicht. Er hatte ein paar Stunden vorher schon einmal so gestanden. Inzwischen war ein Mensch gestorben. Es war nichts dabei. Jeden Augenblick starben Tausende von Menschen. Aber für den einen, der starb, war es alles und wichtiger als die ganze Welt, die weiter kreiste. Er setzte sich auf den Rand der Wanne und zog die Schuhe aus.
Ravic warf die Schuhe in eine Ecke. Er drehte die Dusche an. Das kühle Wasser strömte über seine Haut. Er atmete tief und trocknete sich ab. Der Trost der kleinen Dinge. Wasser, Atem, abendlicher Regen. Er ging in das Zimmer zurück. Die Frau hockte in der Ecke des Sofas, die Decke hoch um sich gezogen.
«Kalt?» fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
«Angst?»
Sie nickte.
«Vor mir?»
«Nein.»
«Vor draußen?»
«Ja.»
Ravic schloß das Fenster. – «Danke», sagte sie.
Es war, als würde er von einer Nacht auf einem fremden Planeten zurückgenommen. Alles wurde plötzlich einfach, der Morgen, die Frau – es war nichts mehr zu denken.
«Komm», sagte er.
Sie starrte ihn an.
«Komm», sagte er ungeduldig.
3
Er wachte auf. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Frau war angezogen und saß auf dem Sofa. Aber sie sah ihn nicht an; sie blickte aus dem Fenster. Er hatte erwartet, sie würde längst fort sein. Es war ihm unbequem, daß sie noch da war. Er konnte morgens keine Menschen um sich leiden. Er überlegte, ob er versuchen sollte, weiterzuschlafen; aber es störte ihn, daß sie ihn beobachten konnte. Er beschloß, sie rasch loszuwerden. Wenn sie auf Geld wartete, war es sehr einfach. Es würde auch sonst einfach sein.
«Sind Sie schon lange auf?»
Die Frau erschrak und drehte sich um. «Ich konnte nicht mehr schlafen. Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe.»
«Sie haben mich nicht geweckt.»
Sie stand auf. «Ich wollte fortgehen.»
«Warten Sie. Ich bin gleich fertig. Sie bekommen noch Ihr Frühstück. Den berühmten Kaffee des Hotels. So lange werden wir beide noch Zeit haben.»
Er stand auf und klingelte. Dann ging er ins Badezimmer. Während er sich die Zähne putzte, hörte er das Mädchen mit dem Frühstück kommen.
Er beeilte sich.
«War es unangenehm?» fragte er, als er herauskam.
«Was?»
«Daß das Zimmermädchen Sie sah. Ich habe nicht daran gedacht.»
«Nein. Es war auch nicht überrascht.» Die Frau blickte auf das Tablett. Es war für zwei Personen, ohne daß Ravic etwas gesagt hätte.
«Sicher nicht. Dafür sind wir in Paris. Hier ist Ihr Kaffee. Haben Sie Kopfschmerzen?»
«Nein.»
«Gut. Ich habe welche. Aber das ist in einer Stunde vorbei. Hier sind Brioches.»
«Ich kann nichts essen.»
«Doch, Sie können. Sie glauben bloß, Sie könnten nicht. Versuchen Sie es nur.»
Sie nahm ein Brioche. Dann legte sie es wieder hin. «Ich kann wirklich nicht.»
«Dann trinken Sie den Kaffee und rauchen eine Zigarette. Das ist das Frühstück der Soldaten.»
«Ja.»
Ravic