zu sehen. Und danach für das «Osiris». Die Huren im «Osiris» warteten schon. Sie wurden zwar regelmäßig von einem Amtsarzt untersucht; aber der Besitzerin war das nicht genug. Sie konnte sich nicht leisten, daß sich jemand in ihrem Lokal ansteckte, deshalb hatte sie mit Veber ein Abkommen getroffen, daß die Mädchen jeden Donnerstag noch einmal privat untersucht wurden. Ravic vertrat ihn manchmal dabei. Die Besitzerin hatte einen Raum im ersten Stock als Untersuchungszimmer eingerichtet. Sie war sehr stolz darauf, daß seit mehr als einem Jahr keiner ihrer Kunden sich etwas geholt hatte; dafür aber hatten, trotz aller Vorsicht der Mädchen, siebzehn Kunden Geschlechtskrankheiten mitgebracht. Rolande, die Gouvernante, brachte Ravic eine Flasche Brandy und ein Glas. «Ich glaube, Marthe hat etwas», sagte sie.
«Gut. Ich werde sie genau ansehen.» «Ich habe sie schon gestern nicht mehr arbeiten lassen. Sie streitet es ab, natürlich. Aber ihre Wäsche …»
«Gut, Rolande.»
» Die Mädchen kamen eine nach der anderen in ihren Hemden herein. Ravic kannte fast alle; es waren nur zwei Neue dabei. «
Mich brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor», sagte Leonie.
«Warum nicht?»
«Keine Kunden, die ganze Woche.»
«Was sagt die Madame dazu?»
«Nichts. Ich habe eine Menge Champagner gemacht. Sieben Flaschen jeden Abend.
«Gut. Ich muß dich trotzdem untersuchen.»
«Meinetwegen. Haben Sie eine Zigarette, Doktor?»
«Ja, hier
«Wissen Sie, was ich nicht verstehe?» sagte Leonie, während sie Ravic beobachtete.
«Was?»
«Daß Sie, wenn Sie diese Sachen machen, noch Lust haben, mit einer Frau zu schlafen.»
«Das verstehe ich auch nicht. Du bist in Ordnung. Wer kommt jetzt?»
«Marthe.»
Marthe war blaß, schmal und blond. Sie hatte das Gesicht eines Botticelli-Engels, aber sie sprach den Jargon der Rue Blondel.
«Mir fehlt nichts, Doktor.»
«Das ist gut. Wir werden sehen.»
«Aber mir fehlt wirklich nichts.»
«Um so besser.»
Rolande stand plötzlich im Zimmer. Sie sah Marthe an. Das Mädchen sagte nichts mehr. Unruhig sah es Ravic an. Er untersuchte sie genau.
«Aber es ist nichts, Doktor. Sie wissen doch, wie vorsichtig ich bin.» Ravic erwiderte nichts. Ravic machte einen Abstrich und untersuchte ihn.
«Du bist krank, Marthe», sagte er.
«Was?Das kann nicht stimmen.»
«Es stimmt.»
Sie sah ihn an. «Dieses Schwein! Ich habe ihm gleich nicht getraut! Student wäre er, sagte er, müsse es doch wissen, er wäre ja Medizinstudent!»
Ravic nickte. Die alte Sache – ein Medizinstudent, der sich einen Tripper geholt und selbst behandelt hatte. Nach zwei Wochen hatte er sich für gesund gehalten, ohne eine Reaktion zu machen.
«Wie lange wird es dauern, Doktor?» «Sechs Wochen.» Ravic wußte, daß es länger dauern würde.
«Sechs Wochen?» Sechs Wochen kein Verdienst. Ins Hospital? «Muß ich ins Hospital? Sechs Wochen ohne Verdienst.»
Sie weinte. «
Komm, Marthe», sagte Rolande.
«Sie nehmen mich nicht wieder! Ich weiß es!»
«Dann muß ich auf die Straße. Und alles wegen diesem …»
«Wir nehmen dich wieder. Die Kunden mögen dich.»
«Wirklich?»
«Natürlich. Und nun komm.» Marthe ging mit Rolande hinaus. Ravic sah ihr nach. Sie würde nicht wiederkommen. Madame war viel zu vorsichtig. Ihre nächste Etappe waren vielleicht noch die billigen Bordelle an der Rue Blondel. Dann die Straße. Dann Koks, Hospital, Blumen oder Zigarettenhandel.
Der Speisesaal des Hôtels International lag unter der Erde. Die Bewohner nannten ihn deshalb die Katakombe. Im Winter mußte er den ganzen Tag erleuchtet werden. Der Raum war gleichzeitig Rauchzimmer, Schreibzimmer, Halle, Versammlungsraum und die Rettung der Emigranten, die keine Papiere hatten – sie konnten, wenn die Polizei kontrollierte, durch ihn zum Hof in eine Garage und von dort auf die gegenüberliegende Straße entkommen. Ravic saß mit dem Portier des Nachtklubs Scheherazade, Boris Morosow, in einer Ecke der Katakombe. Morosow lebte seit fünfzehn Jahren in Paris. Sie spielten Schach. Die Katakombe war leer, bis auf einen Tisch, an dem einige Leute saßen und tranken und laut redeten und alle paar Minuten einen Toast ausbrachten. Morosow sah sich ärgerlich um. «Kannst du mir erklären, Ravic, warum hier heute abend so laut ist? Warum gehen diese Emigranten nicht schlafen?» Ravic lachte. «Diese Emigranten da in der Ecke gehen mich nichts an. »
Sie spielten ungefähr eine Stunde. Dann sah Morosow auf. «Da kommt Charles», sagte er. «Er will scheinbar etw as von dir.»
Ravic sah auf. Der Bursche aus der Conciergenloge kam heran. Er hatte ein kleines Paket in der Hand. «Dies hier ist für Sie.» «Für mich?» Ravic betrachtete das Paket. Es war klein, in weißes Seidenpapier gewickelt und verschnürt. Eine Adresse stand nicht drauf. «Ich erwarte keine Pakete. Muß ein Irrtum sein. Wer hat es gebracht?» «Eine Frau … eine Dame …» «Es steht kein Name darauf. Hat sie gesagt, es sei für mich?» «Das nicht gerade. Sie hat gesagt, für den Arzt, der hier wohnt.» «Sie kam doch vor kurzem nachts mit Ihnen.» «Es kommen ab und zu Damen mit mir, Charles. Aber du solltest wissen, daß Privatsphäre die erste Tugend eines Hotelangestellten ist. »
«Mach das Paket auf, Ravic», sagte Morosow.
«Selbst wenn es nicht für dich ist. »
5
Der Wirt kannte Ravic gleich wieder. «Die Dame ist in ihrem Zimmer», sagte er.
«Können Sie ihr telefonieren, daß ich hier bin?»
«Das Zimmer hat kein Telefon. Sie können ruhig hinaufgehen.» «Welche Nummer ist es?»
«Siebenundzwanzig.»
«Ich habe den Namen nicht mehr im Kopf. Wie hieß sie doch?» Der Wirt zeigte kein Erstaunen. «Madou. Joan Madou», fügte er hinzu. «Glaube nicht, daß sie wirklich so heißt. Künstlername wahrscheinlich.»
«Wieso Künstlername?»
«Sie hat sich als Schauspielerin eingetragen. Klingt doch so, wie?»
«Das weiß ich nicht. Ich kannte einen Schauspieler, der nannte sich Gustav Schmidt. Er hieß in Wirklichkeit Alexander Marie Graf von Zambona. Gustav Schmidt war sein Künstlername. Klang gar nicht so, wie?»
Der Wirt gab sich nicht geschlagen. «Heutzutage passiert viel», erklärte er.
«Es passiert gar nicht einmal so viel. Wenn Sie Geschichte studieren, werden Sie finden, daß wir noch in verhältnismäßig ruhigen Zeiten leben.»
«Danke, mir genügt’s.»
«Mir auch. Aber man muß seinen Trost suchen, wo man kann. Nummer siebenundzwanzig, sagten Sie?»
«Ja, mein Herr.»
Ravic klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal und hörte eine undeutliche Stimme. Als er die Tür öffnete, sah er die Frau. Sie saß auf dem Bett. Sie war angezogen und trug das blaue Schneiderkostüm, in dem Ravic sie zum ersten Male gesehen hatte.
Er zog die Tür hinter sich zu. «Ich hoffe, ich störe Sie nicht», sagte er und verstand sofort, wie sinnlos das war. Was konnte die Frau schon stören? Da war nichts, was sie noch stören konnte.
Er legte seinen Hut auf einen Stuhl. «Konnten Sie alles erledigen?» fragte er.
«Ja. Es war nicht viel.»
«Keine Schwierigkeiten?»
«Nein.»
Ravic