breit, und er wurde verkannt. Das Verwirrende war, dass der Beobachter und Richter europäischen Verfalls dieser trostlosen Gegenwart keineswegs das Bild einer Zukunft entgegensetzte, die zu lieben und um derentwillen das Bestehende zu hassen wäre; dass er vielmehr, um das Seiende herabzusetzen, eine Vergangenheit pries, die doch gerade er durchschaut, verhöhnt und kritisch erledigt hatte. Die fiebrig animierte Nicoletta war nicht dazu geneigt, sich über irgend etwas zu wundern; sonst hätte es ihr wohl erstaunlich scheinen können, dass eben der Mann, der sich selbst den klassischen Satiriker der bürgerlichen Epoche zu nennen liebte, nun Offiziere der alten deutschen Armee und rheinische Industrielle zu Idealfiguren verklärte, die tadellose Disziplin und kühne Persönlichkeit sieghaft in sich vereinigten. Der alte Spötter, dessen selbstherrlicher, aber geistig richtungsloser Radikalismus ins Reaktionäre abgeglitten und entartet war, deklamierte schnarren-des Lob für die physischen und moralischen Qualitäten preußischer Generale und denunzierte mit der gereizten Stimme eines Unteroffiziers die schlappe Weichlichkeit des heutigen Geschlechts. „Nirgends Zucht! Nirgends Disziplin!“ schrie er so laut und zornig, dass die alten Herren, die bei ihren Rotweinflaschen saßen, erstaunt die Köpfe herdrehten. Auch die Frauen hatten jede Disziplin verloren, behauptete der aufgebrachte Marder. Sie verstanden nichts mehr von der Liebe, aus der Hingabe machten sie ein Geschäft, wie die Männer waren sie oberflächlich und vulgär geworden. Hier lachte Nicoletta so herausfordernd, dass Marder galant hinzufügte: „Ausnahmen gibt es natürlich!“
Dann aber begann er wieder zu schimpfen. Seine Ansicht ging dahin, die deutschen Männer hätten allen Sinn für Ordnung und Respekt verloren, seitdem die allgemeine Dienstpflicht abgeschafft war. Heute, in einer verlotterten Demokratie, sei alles Talmi, falsch, durch Reklame groß gemachter Betrug. „Wenn es anders wäre“, fragte Marder erbittert, „müsste ich dann nicht der erste Mann im Staate sein? Wäre die ungeheure Kraft und Kompetenz meines Hirns nicht dazu berufen, alle wesentlichen Dinge öffentlichen Lebens zu entscheiden – während heute, da jeder Instinkt und Maßstab für echten Rang abhanden kam, meine Stimme nur die beinah überhörte des öffentlichen schlechten Gewissens ist!“ Seine Augen glühten, sein hageres Gesicht, dessen Blässe zu der Schwärze des Schnurrbarts kontrastierte, war verzerrt. Um ihn zu beruhigen, erinnerte Nicoletta daran, dass die Stücke keines anderen lebenden Autors so häufig aufgeführt würden wie die seinen. Er lächelte mit flüchtig befriedigter Eitelkeit. Aber schon nach wenigen Sekunden verfinsterte er sich wieder. Plötzlich schrie er Hendrik Höfgen an, der innig vertieft in sein Gespräch mit Barbara saß: „Haben Sie vielleicht gedient, Herr?“
Hendrik, überrascht und entsetzt von so drohender Anrede, wandte ihm ein ziemlich fassungsloses Gesicht zu. Marder aber verlangte: „Antworten Sie, Herr!“ Hendrik brachte, mühsam lächelnd, hervor: „Nein, natürlich nicht… Gott sei Dank nicht…“ Darauf lachte Marder triumphierend.
„Da sieht man es wieder! Keine Disziplin! Keine Persönlichkeit! – Haben Sie vielleicht Disziplin, Herr? Sind Sie vielleicht eine Persönlichkeit? – Alles Talmi, alles Ersatz, Plebejertum, wohin ich immer schaue!“!
Das war eine Impertinenz; Hendrik wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er fühlte Zorn in sich hochsteigen; um der Damen willen, und auch, weil Marders Ruhm ihm imponierte, entschloss er sich, einen Skandal zu vermeiden. Übrigens hielt er den Schriftsteller für nervenkrank. Welch erstaunliche und erschütternde Veränderung aber ging nun vor mit Marder, der eine schauerlich gedämpfte Stimme und prophetische Augen bekam!
„Das alles wird grässlich enden.“ Er raunte es – in welche Fernen oder in was für Abgründe schaute jetzt sein Blick, der mit einemmal eine so fürchterlich durchdringende Kraft bekam? „Es wird das Schlimmste geschehen, denkt an mich, Kinder, wenn es da ist, ich habe es vorausgesehen und vorausgewusst. Diese Zeit ist in Verwesung, sie stinkt. Denkt an mich: Ich habe es gerochen. Mich täuscht man nicht. Ich spüre die Katastrophe, die sich vorbereitet. Sie wird beispiellos sein. Sie wird alles verschlingen, und um keinen wird es schade sein, außer um mich. Alles, was steht, wird zerbersten. Es ist morsch. Ich habe es befühlt, geprüft und verworfen. Wenn es stürzt, wird es uns alle begraben. Ihr tut mir leid, Kinder, denn ihr werdet euer Leben nicht leben dürfen. Ich aber habe ein schönes Leben gehabt.“
Theophil Marder war fünfzig Jahre alt. Er war mit drei Frauen verheiratet gewesen. Er war angefeindet und ausgelacht worden; er hatte den Erfolg, den Ruhm und auch den Reichtum kennen gelernt.
Da er schwieg und nur erschüttert keuchte, sprachen auch die anderen, die mit ihm am Tisch saßen, kein Wort; Nicoletta, Barbara und Hendrik hatten die Augen niedergeschlagen.
Marder aber änderte jäh die Stimmung. Er schenkte Rotwein ein und wurde charmant. Höfgen, den er eben noch beleidigt hatte, machte er nun Komplimente über sein begabtes Spiel. „Ich weiß es wohl“, sagte er gönnerhaft, „die Rolle ist blendend, mein Dialog unvergleichlich pointiert. Aber die Jammergestalten, die sich heute Schauspieler nennen, bringen es fertig, selbst in meinen Stücken schwunglos langweilig zu sein. Sie, Höfgen, haben immerhin eine Ahnung davon, was Theater ist. Unter den Blinden fallen Sie mir als der Einäugige auf, Prost!“ Dabei hob er das Rotweinglas. „Mit unserer Barbara scheinen Sie sich ja nicht übel zu unterhalten“, sagte er launig. Barbara begegnete seinem anzüglichen Lächeln mit ernstem Blick. Hendrik zögerte, ehe er mit Theophil anstieß: die forsche Redeweise des Dramatikers im Zusammenhang mit dem wunderbaren Mädchen Barbara empfand er als unpassend. Es schien, dass Marder, der nicht nur mit seiner Kenntnis von Weinen und Saucen, sondern auch mit seinem untrügbaren Instinkt für den Wert einer Frau dröhnend renommierte, Barbara überhaupt nicht bemerkte. Augen hatte er nur für Nicoletta, die es ihrerseits sorgsam vermied, den zärtlichen und besorgten Blick zu erwidern, den Barbara zuweilen auf sie richtete.
Marder bestellte Champagner zu den Süßigkeiten, die der feine Ober eben servierte. Es war nach Mitternacht; das gediegene Lokal, in dem es keine Gäste mehr gab außer diesen vier sonderbaren, hätte längst seine Pforten geschlossen; aber Marder gab den Kellnern zu verstehen, sie würden anständige Trinkgelder bekommen, wenn sie ein wenig länger als gewöhnlich ihren Dienst taten. Der große Satiriker, das wachsame Gewissen einer verderbten Zivilisation, zeigte jetzt sein Talent zur harmlosen Gemütlichkeit. Er erzählte Witze, und zwar sowohl solche aus preußisch-militärischer als auch andere aus östlichjüdischer Sphäre. Ab und zu schaute er Nicoletta an, um zu konstatieren: „Prachtvolles Mädel! Disziplinierte Person! Heute sehr seltene Sache!“ Oder er betrachtete sich Höfgen und rief munter: „Dieser sogenannte Hendrik – eine dolle Type! Kolossal ulkiges Phänomen! Macht mir Spaß. Muss ich mir notieren!“
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