Герман Гессе

Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке


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rel="nofollow" href="#n_42" type="note">[42], wohin sie ihn aber führen werde, ahnte er noch nicht. Narziss ahnte es und war machtlos; seines Lieblings Weg führte in Länder, die er selbst nie betreten würde.

      Goldmunds Begierde nach den Wissenschaften war sehr viel geringer geworden. Auch seine Disputierlust in den Freundesgesprächen war vergangen, beschämt erinnerte er sich an manche ihrer einstigen Unterhaltungen. Inzwischen war bei Narziss in jüngster Zeit, sei es mit der Vollendung seines Noviziats oder infolge der Erlebnisse mit Goldmund, ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit, Askese und geistlichen Übungen erwacht, eine Neigung zu Fasten und langen Gebeten, häufigen Beichten, freiwilligen Bußübungen, und diese Neigung vermochte Goldmund zu verstehen, ja beinahe zu teilen. Seit seiner Genesung war sein Instinkt sehr geschärft; wusste er auch noch nicht das geringste über seine künftigen Ziele, so spürte er doch mit starker und oft beängstigender Deutlichkeit, dass sein Schicksal sich vorbereite, dass eine gewisse Schonzeit der Unschuld und Ruhe[43] nun vorüber und alles in ihm gespannt und bereit sei. Oft war die Ahnung beseligend, hielt ihn halbe Nächte wach wie eine süße Verliebtheit; oft auch war sie dunkel und tief beklemmend. Die Mutter war wieder zu ihm gekommen, die lang Verlorene; das war ein hohes Glück. Aber wohin führte ihr lockender Ruf? Ins Ungewisse, in Verstrickung, in Not, vielleicht in den Tod. Ins Stille, Sanfte, Gesicherte, in Mönchszelle und lebenslängliche Klostergemeinschaft führte sie nicht, ihr Ruf hatte nichts gemein mit jenen väterlichen Geboten, die er so lange mit seinen eigenen Wünschen verwechselt hatte. Aus diesem Gefühl, das oft stark, bang und brennend war wie ein heftiges Körpergefühl, nährte sich Goldmunds Frömmigkeit. Im Wiederholen langer Gebete an die heilige Mutter Gottes ließ er den Überschwall des Gefühls, das ihn zur eigenen Mutter zog, von sich strömen. Häufig aber endeten seine Gebete doch wieder in jenen merkwürdigen, herrlichen Träumen, die er jetzt so oft erlebte: Träumen bei Tage, bei halbwachen Sinnen, Träumen von ihr, an denen alle Sinne teilhatten. Da umduftete ihn die Mutterwelt, blickte dunkel aus rätselhaften Liebesaugen, rauschte tief wie Meer und Paradies, lallte kosend sinnlose, vielmehr mit Sinn überfüllte Koselaute, schmeckte nach Süßem und nach Salzigem, streifte mit seidigem Haar über dürstende Lippen und Augen. Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverheißendes Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.

      Tief sank der Jüngling in diese Träume, in diese vielfädigen Gespinste beseelter Sinne. In ihnen stand nicht nur geliebte Vergangenheit wieder bezaubernd auf: Kindheit und Mutterliebe, strahlend goldener Lebensmorgen; es schwang in ihnen auch drohende, versprechende, lockende und gefährliche Zukunft. Zuweilen erschienen diese Träume, in denen Mutter, Madonna und Geliebte eins waren, ihm nachher wie entsetzliche Verbrechen und Gotteslästerungen, wie niemals mehr zu sühnende Todsünden; zu andern Malen fand er in ihnen alle Erlösung, alle Harmonie. Voll von Geheimnissen starrte das Leben ihn an, eine finstere unergründliche Welt, ein starrer stachliger Wald voll märchenhafter Gefahren – aber es waren Geheimnisse der Mutter, sie kamen von ihr, sie führten zu ihr, sie waren der kleine dunkle Kreis, der kleine drohende Abgrund in ihrem lichten Auge.

      Viel vergessene Kindheit kam in diesen Mutterträumen herauf, aus unendlichen Tiefen und Verlorenheiten blühten viele kleine Erinnerungsblumen, blickten goldig, dufteten ahnungsvoll, Erinnerungen an Gefühle der Kindheit, vielleicht an Erlebnisse, vielleicht an Träume. Von Fischen träumte er zuweilen, die schwammen schwarz und silbern auf ihn zu, kühl und glatt, schwammen in ihn hinein, durch ihn hindurch, kamen wie Boten mit holden Glücksnachrichten aus einer schöneren Wirklichkeit, schwanden schwänzelnd und schattenhaft, waren dahin, hatten statt Botschaft neue Geheimnisse gebracht. Oft träumte er schwimmende Fische und fliegende Vögel, und jeder Fisch oder Vogel war sein Geschöpf, war von ihm abhängig und lenkbar wie sein Atemzug, strahlte wie ein Blick, wie ein Gedanke von ihm aus, kehrte in ihn zurück. Von einem Garten träumte er oft, einem Zaubergarten mit märchenhaften Bäumen, übergroßen Blumen, tiefen blaudunklen Höhlen; zwischen den Gräsern blickten funkelnde Augen unbekannter Tiere, an den Ästen glitten glatte sehnige Schlangen; an Reben und Gesträuchen hingen groß und feuchtglänzend riesige Beeren, die schwollen beim Pflücken in seiner Hand und vergossen warmen Saft wie Blut oder hatten Augen und bewegten sie schmachtend und listig; er lehnte sich tastend an einen Baum, griff nach einem Ast und sah und fühlte zwischen Stamm und Ast ein Gekräusel wirrer dichter Haare nisten wie das Haar in der Höhle einer Achsel. Einmal träumte er von sich selber oder von seinem Namensheiligen, träumte von Goldmund Chrysostomus, der hatte einen Mund aus Gold und sprach mit dem goldenen Munde Worte, und die Worte waren kleine schwärmende Vögel, in flatternden Scharen flogen sie davon.

      Einmal träumte er: er war groß und erwachsen, saß aber wie ein Kind am Boden, hatte Lehm vor sich und knetete wie ein Kind aus dem Lehm Figuren: ein Pferdchen, einen Stier, einen kleinen Mann, eine kleine Frau. Das Kneten machte ihm Spaß, und er machte den Tieren und Männern lächerlich große Geschlechtsteile, im Traume kam ihm das sehr witzig vor. Dann wurde er des Spiels müde und ging weiter, da fühlte er hinter sich etwas leben, etwas Lautloses, Großes sich nähern, und sah zurück, und sah mit tiefem Erstaunen und mit großem Schrecken, der aber nicht ohne Freude war, seine kleinen Lehmfiguren groß und lebendig geworden. Gewaltig groß, stumme Riesen, marschierten die Figuren an ihm vorbei, noch immer wachsend, riesig und schweigend zogen sie weiter, in die Welt hinein, hoch wie Türme.

      In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt. Ein Nichts war genug, um in diese dünne Haut ein Loch zu stoßen: etwas Ahnungsvolles im Klang eines griechischen Wortes mitten in der nüchternen Lektion, eine Welle Duft aus der Kräutertasche des botanisierenden Paters Anselm, der Blick auf eine steinerne Blattranke, die oben aus der Säule eines Fensterbogens quoll – solche kleine Anreize genügten schon, um die Haut der Wirklichkeit zu durchstoßen und hinter der friedlich dürren Wirklichkeit die tosenden Abgründe, Ströme und Milchstraßen jener Seelenbilderwelt zu entfesseln. Ein lateinisches Initial wurde zum duftenden Gesicht der Mutter, ein langgezogener Ton im Ave[44] zum Paradiestor, ein griechischer Buchstabe zum rennenden Pferd, zur bäumenden Schlange, still wälzte sie sich unter Blumen davon, und schon stand an ihrer Stelle wieder die starre Seite der Grammatik.

      Selten sprach er davon, nur wenige Male gab er Narziss eine Andeutung von dieser Traumwelt.

      »Ich glaube«, sagte er einmal, »dass ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega[45], und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus[46] wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Federn, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziss, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: mit ihnen schrieb Gott die Welt.«

      »Ich halte viel von ihnen«, sagte Narziss traurig. »Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, dass ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, dass du nie ein Gelehrter sein wirst?«

      O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.

      »Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder