die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.«
Schüchtern legte Goldmund seine Hand auf des Freundes Schulter.
»Nun hast du es schon gesagt. Aber du hast es diesmal nicht gut gesagt, Narziss, nicht richtig. Es ist ganz anders. Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, dass jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, dass ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr. Wie aus den Träumen meines eigenen Herzens heraus war da plötzlich eine schöne fremde Frau gekommen, die hielt meinen Kopf in ihrem Schoß, und sie lächelte mich an wie eine Blume und war lieb mit mir, gleich bei ihrem ersten Kuss fühlte ich es in mir schmelzen und auf eine wunderbare Art weh tun. Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen. Sie hat mich gelehrt, was eine Frau ist und welches Geheimnis sie hat. Sie hat mich in einer halben Stunde um viele Jahre älter gemacht. Ich weiß jetzt vieles. Auch das wusste ich ganz plötzlich, dass jetzt meines Bleibens in diesem Hause nicht mehr sei, keinen einzigen Tag mehr. Ich gehe, sobald es Nacht ist.«
Narziss hörte zu und nickte.
»Es ist plötzlich gekommen«, sagte er, »aber es ist etwa das, was ich erwartet hatte. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice. Kann ich etwas für dich tun?«
»Wenn es dir möglich ist, so sage unserm Abt ein Wort, dass er mich nicht völlig verdammt. Er ist der einzige außer dir im Hause, dessen Gedanken über mich mir nicht gleichgültig sind. Er und du.«
»Ich weiß… Hast du sonst ein Anliegen?«
»Eine Bitte, ja. Wenn du später an mich denkst, dann bete einmal für mich! Und… ich danke dir.«
»Wofür, Goldmund?«
»Für deine Freundschaft, für deine Geduld, für alles. Auch dafür, dass du mich heute anhörst, wo es doch schwer für dich ist. Auch dafür, dass du nicht versucht hast, mich zurückzuhalten.«
»Wie sollte ich dich zurückhalten wollen? Du weißt, wie ich darüber denke. – Aber wohin wirst du wohl gehen, Goldmund? Hast du denn ein Ziel? Gehst du zu jener Frau?«
»Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht. Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin.«
»Nun ja. Aber sag, mein Lieber, weißt du, dass dein Weg mit ihr vielleicht sehr kurz sein wird? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie verlassen, glaube ich. Sie wird vielleicht Verwandte haben, vielleicht einen Mann; wer weiß, wie man dich dort aufnehmen wird.«
Goldmund lehnte sich an den Freund.
»Ich weiß das«, sagte er, »obwohl ich bisher noch nicht daran gedacht hatte. Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muss, weil es mich ruft.«
Er schwieg und seufzte, und sie saßen, aneinandergelehnt, traurig und doch glücklich im Gefühl ihrer unzerstörbaren Freundschaft. Dann fuhr Goldmund fort: »Du musst nicht glauben, dass ich ganz blind und ahnungslos bin. Nein. Ich gehe gerne, weil ich fühle, dass es sein muss, und weil ich heut etwas so Wunderbares erlebt habe. Aber ich denke mir nicht, dass ich in lauter Glück und Vergnügen hineinlaufe. Ich denke mir, der Weg wird schwer sein. Und doch wird er auch schön sein, hoffe ich. Es ist so sehr schön, einer Frau anzugehören, sich hinzugeben! Lache mich nicht aus, wenn es töricht klingt, was ich sage. Aber sieh: eine Frau zu lieben, ihr sich hinzugeben, sie ganz in sich einzuhüllen und sich von ihr eingehüllt fühlen, das ist nicht dasselbe was du Verliebtsein nennst und ein bisschen bespöttelst. Es ist nicht zu bespötteln. Es ist für mich der Weg zum Leben und der Weg zum Sinn des Lebens. – Ach, Narziss, ich muss dich verlassen! Ich liebe dich, Narziss, und ich danke dir, dass du mir heut ein bisschen Schlaf geopfert hast. Schwer fällt es mir, von dir fortzugehen. Wirst du mich nicht vergessen?«
»Mach dir und mir das Herz nicht schwer! Ich vergesse dich niemals. Du wirst wiederkommen, ich bitte dich darum, ich erwarte es. Wenn es dir einmal schlecht geht, so komm zu mir oder rufe mich. – Leb wohl, Goldmund, Gott sei mit dir!«
Er hatte sich erhoben. Goldmund umarmte ihn. Da er seines Freundes Scheu vor Liebkosungen kannte, küsste er ihn nicht, er streichelte nur seine Hände, Die Nacht brach ein, Narziss schloss die Zelle hinter sich und ging zur Kirche hinüber, seine Sandalen klappten auf den Steinfliesen. Goldmund folgte der hagern Gestalt mit liebenden Augen, bis sie am Ende des Ganges wie ein Schatten verschwand, von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt, angesogen und eingefordert von Übungen, von Pflichten, von Tugenden. O wie wunderlich, wie unendlich seltsam und verwirrt war doch alles! Wie seltsam und erschreckend war auch dies gewesen: mit seinem überströmenden Herzen, mit seiner blühenden Liebesberauschtheit zu seinem Freunde gerade in einer Stunde zu kommen, wo dieser meditierend, von Fasten und Wachen verzehrt, seine Jugend, sein Herz, seine Sinne ans Kreuz schlug und zum Opfer brachte und sich der strengsten Schule des Gehorsams unterzog, um nur dem Geiste zu dienen und ganz zum minister verbi divini zu werden![52]
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