lass uns morgens aufbrechen,“ sage ich. „Wir fahren im Morgengrauen los, fahren nach Norden und hoffen, dass sie umgedreht haben und nach Süden fahren.“
„Und was, wenn nicht?“ fragt er.
„Hast du irgendeine bessere Idee? Wir fahren los, weg von der Stadt, nicht in die Stadt. Außerdem liegt Kanada im Norden, oder?“
Er dreht sich um, schaut weg und seufzt.
„Wir könnten auch bleiben wo wir sind,“ sagt er. „Ein paar Tage abwarten. Sicher gehen, dass sie zuerst an uns vorbeigefahren sind“:
„Bei dem Wetter? Wenn wir keine Unterkunft finden, erfrieren wir. Und bis dann haben wir nichts mehr zu essen. Wir können nicht hierbleiben, wir müssen weiter fahren.“
„Ach so, jetzt willst du weiterfahren,“ sagt er.
Ich starre ihn an, er beginnt mir wirklich auf die Nerven zu gehen.
“Gut,” sagt er. “Dann lasst uns in der Morgendämmerung losfahren. In der Zwischenzeit müssen wir Wache stehen, wenn wir die Nacht hier verbringen. Im Schichtbetrieb. Ich fange an, dann du, dann Ben. Ihr schlaft jetzt. Keiner von uns hat bis jetzt geschlafen, und wir brauchen alle Schlaf. Abgemacht?“ fragt er und schaut mich und Ben an.
„Abgemacht“ sage ich. Er hat Recht.
Ben sagt nichts, er schaut noch um sich, verloren in seiner eignen Welt.
“Hey,” sagt Logan hart, lehnt sich zurück und tritt an seinen Fuß. „Ich rede mit dir. Abgemacht?“
Ben dreht sich langsam um und schaut ihn an, er sieht immer noch weggetreten aus, dann nickt er. Ich kann wirklich nicht sagen, ob er ihn gehört hat. Es tut mir so leid für Ben. Es ist so, als wäre er nicht ganz da. Der Kummer und die Schuldgefühle wegen seines Bruders fressen ihn auf. Ich kann mir noch nicht mal vorstellen, was er durchmacht.
„Gut,“ sagt Logan. Er prüft seine Munition, sichert seine Pistole und dann springt er vom Boot, auf das Dock neben uns. Das Boot schaukelt, aber es treibt nicht weg. Logan steht auf dem trockenen Dock und inspiziert unsere Umgebung. Er setzt sich auf einen Holzpfahl und starrt in die Dunkelheit. Die Waffe liegt auf seinem Schoß. Ich lasse mich neben Bree nieder und lege meine Arme um sie. Auch Rose kommt zu uns, und ich lege meinen Arm um beide.
„Ihr zwei müsst euch ausruhen. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns,“ sage ich und wundere mich im Stillen, ob das unserer letzte Nacht auf Erden sein wird. „Erst muss ich mich um Sascha kümmern“ sagt Bree.
Sascha. Das hätte ich fast vergessen.
Ich sehe zu ihr herüber und sehe den gefrorenen Körper des Hundes auf der anderen Seite des Bootes. Ich kann kaum glauben, dass wir sie hierhin gebracht haben. Aber Bree ist ein loyales Herrchen. Bree steht auf, geht leise quer über das Boot und steht vor Sascha. Sie kniet sich nieder und streichelt ihren Kopf. Ihre Augen sind deutlich im Mondlicht zu sehen. Ich gehe zu ihr und knie mich neben sie. Ich streichle Sascha auch, ich werde ihr immer dankbar dafür sein, dass sie uns beschützt hat.
„Kann ich dir helfen sie zu begraben?“ frage ich.
Bree nickt, schaut leise nach unten, eine Träne rinnt über ihr Gesicht.
Zusammen heben wir Sascha auf, und lehnen uns mit ihr weit über das Boot hinaus. Dort halten wir beide sie, und keiner von uns möchte loslassen. Ich schaue in das eiskalte, dunkle Wasser des Hudsons unter uns, in die dümpelnden Wellen.
„Willst du irgendetwas sagen, bevor wir loslassen?“ frage ich.
Bree schaut nach unten und blinzelt die Tränen weg. Ihr Gesicht leuchtet im Mondlicht. Sie sieht aus wie ein Engel. „Sie war ein guter Hund. Sie hat mir das Leben gerettet. Ich hoffe, dass sie jetzt in einer besseren Welt ist. Ich hoffe, dass ich sie wieder sehe,“ sagt sie mit brechender Stimme.
Wir strecken uns weit aus und legen Sascha vorsichtig auf das Wasser. Mit einem leichten Platschen taucht ihr Körper ein. Dann treibt er für eine Sekunde oder zwei, bis er beginnt zu sinken. Die Strömungen des Hudson sind stark, und sie reißen den Hund schnell mit sich, auf das offene Wasser hinaus. Wir schauen zu, wie sie, halb unter Wasser, durch das Mondlicht treibt, immer weiter und weiter weg. Es bricht mir das Herz. Es erinnert mich daran, dass ich Bree fast für immer verloren hätte, während ich den Hudson herunter gespült worden wäre, genau wie Sascha.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen sind. Jetzt ist es mitten in der Nacht, und ich liege im Boot, zusammengerollt bei Bree und Rose, denke nach und kann nicht schlafen. Keiner von uns hat ein Wort gesagt, seit wir Sascha ins Wasser gelegt haben. Wir alle sitzen einfach da in düsterer Stille, das Boot schaukelt sanft. Ein paar Meter entfernt sitzt Ben, in seiner eigenen Welt. Er scheint mehr tot als lebendig. Manchmal, wenn ich ihn anschaue, fühle ich mich als würde ich ein wandelndes Gespenst sehen. Es ist komisch: Wir sitzen hier alle zusammen und sind Welten voneinander entfernt.
Logan ist etwa zehn Meter entfernt, und hält pflichtbewusst Wache auf dem Pier, er schaut umher, die Waffe in der Hand. Ich kann ihn mir gut als Soldat vorstellen. Ich bin froh, dass er uns beschützt, und dass er die erste Schicht übernommen hat. Ich bin müde, meine Knochen sind erschöpft, und ich freue mich nicht gerade darauf die nächste Schicht zu übernehmen. Ich weiß, dass ich schlafen sollte, aber ich kann einfach nicht. Während ich hier liege und Bree in den Armen halte, jagen mir die Gedanken nur so durch den Kopf.
Ich denke wie vollkommen verrückt die Welt geworden ist. Ich kann kaum glauben, dass das alles echt ist. Es ist wie ein langer Alptraum, der einfach nicht enden will. Jedes Mal wenn ich denke, dass ich in Sicherheit bin, passiert wieder etwas. Wenn ich zurückdenke kann ich kaum glauben, dass ich fast von Rupert getötet worden wäre. Es war dumm von mir, Mitleid mit ihm zu haben, dumm, ihn mit uns fahren zu lassen. Ich kann immer noch nicht ganz verstehen, warum er ausgeflippt ist. Was war der Vorteil für ihn? Wollte er uns alle töten, unser Boot nehmen und verschwinden, nur um mehr Lebensmittel für sich selbst zu haben? Und wohin wäre er gegangen? War er einfach böse? Psychotisch? Oder war er ursprünglich ein guter Mann, der nach all den Jahren allein, hungrig und frierend durch geknallt ist? Ich möchte glauben, dass Letzteres der Fall ist, dass er tief innen drin ein guter Mann war, der nur durch die Umstände verrückt geworden ist. Ich hoffe es, aber man kann nie wissen.
Ich schließe die Augen und denke daran, wie knapp ich dem Tod von der Schippe gesprungen bin, fühle das Metall des Messers an meiner Kehle. Nächstes Mal werde ich keinem vertrauen, für niemanden anhalten, keinem glauben. Ich will alles tun, was ich kann, damit Bree, Rose, ich und die anderen überleben. Keine weiteren Zufälle, keine Risiken. Und wenn das heißt, hartherzig zu werden, dann ist es eben so.
Während ich zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass jede Stunde auf dem Hudson ein Kampf um Leben und Tod war. Ich sehe nicht, wie wir es jemals bis Kanada schaffen können. Ich wäre erstaunt, wenn wir die nächsten paar Tage überleben, sogar die nächste paar Meilen auf dem Wasser. Ich weiß, dass unsere Chancen nicht gut stehen. Ich halte Bree fest im Arm, es könnte unsere letzte gemeinsame Nacht sein. Wenigstens werden wir kämpfend zu Grunde gehen, auf eigenen Füßen stehend, nicht als Sklaven oder Gefangene.
“Es war so unheimlich,” sagt Bree.
Ihre Stimme in der Dunkelheit schreckt mich auf. Sie ist so zart, am Anfang frage ich mich, ob sie überhaupt etwas gesagt hat. Sie hat stundenlang kein Wort gesagt, und ich dachte sie würde schlafen.
Ich drehe mich um und sehe, dass ihre Augen offen sind, angsterfüllt.
“Was war so unheimlich Bree?”
Sie schüttelt den Kopf und wartet einige Sekunden bevor sie spricht. Ich merke, dass sie sich gerade erinnert „Sie haben mich genommen. Ich war allein. Sie haben mich in einen Bus getan, dann auf ein Boot. Wir waren alle aneinander gekettet. Es war so kalt, und wir hatten alle solche Angst. Sie nahmen mich mit in das Haus, und du würdest nicht glauben, was ich gesehen habe. Was sie mit den anderen Mädchen gemacht haben. Ich kann immer noch ihre Schreie hören. Ich kriege sie einfach nicht aus meinem Kopf.“
Ihr Gesicht verzieht sich, und sie beginnt zu weinen.
Mein Herz zerbricht in tausend Stücke. Ich kann mir noch nicht