Ihre Stimme brach, als sie sprach. Sie klang so jung und verletzlich, wie sie sich fühlte.
„Das bin ich“, erwiderte Roy tief schluchzend. „Es tut mir …“
Aber er unterbrach sich. Emily wusste instinktiv welches Wort fehlte, um diesen Satz zu beenden: „leid“. Aber auch, dass ihr Vater noch nicht bereit war, mit dem Strom von Gefühlen fertig zu werden, den eine solche Äußerung entfesseln würde. Emily ging es genauso. Sie wollte noch nicht zu den schmerzhaften Erinnerungen zurückkehren. Sie wollte nur in diesem Augenblick verweilen. Sich daran erfreuen.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren und wusste nicht wie lange ihr Vater und sie sich schon gegenseitig festhielten. Aber sie spürte eine plötzliche Veränderung in der Art, wie ihr Vater sie hielt, eine Anspannung seiner Muskeln, als ob ihm die Umarmung plötzlich unangenehm war. Sie löste sich von ihm und sah über ihre Schulter um zu sehen, was Roys Blick jetzt fixierte: Chantelle.
Sie stand in der offenen Tür der Pension und ihr Gesicht hatte einen verblüfften Ausdruck, während sie versuchte, die seltsame Szene die sich vor ihr abspielte zu begreifen. Emily konnte alle Fragen in ihren Augen lesen. Wer ist dieser Mann? Warum weint Emily? Warum ist er hier? Was geht hier vor?
„Chantelle, Schatz“, sagte Emily und streckte eine Hand aus. „Komm her.“
Emily empfand Chantelles Zögern als eine für sie untypische Schüchternheit.
„Es gibt nichts, vor dem du Angst haben musst“, fügte Emily hinzu.
Chantelle kam ein paar Schritte auf Emily zu. „Warum sieht er mich so an?“, fragte sie mit einem vernehmbaren Flüstern, das Roy deutlich hören konnte.
Emily sah ihren Vater an. Seine feuchten Augen waren weit aufgerissen vor Verwirrung. Er wischte sich die Feuchtigkeit von den Wimpern.
„Du hast eine Tochter?“, stotterte er schließlich, seine Stimme war voller Emotionen.
„Ja“, sagte Emily, griff nach Chantelle und zog das Mädchen an ihre Seite und in eine halbe Umarmung. „Nun, sie ist Daniels Tochter. Aber ich ziehe sie auf wie ein eigenes Kind.“
Chantelle klammerte sich an Emily. „Wird er mich wegbringen?“, fragte sie.
„Oh nein, mein Schatz!“, rief Emily aus. „Das ist mein Vater. Dein Opa.“ Sie wandte sich zu ihrem Vater um und sah ihn an. „Opa Roy?“, schlug sie vor.
Er nickte sofort. Er schien von dem Kind verzaubert zu sein, und seine blassblauen Augen funkelten vor Faszination.
„Sie sieht ihr so ähnlich“, sagte er.
Emily verstand sofort, was er meinte. Dass Chantelle wie Charlotte aussah. Kein Wunder, dass er angenommen hatte, sie sei Emilys Kind. Emily hatte selbst manchmal Schwierigkeiten zu glauben, dass das nicht Charlottes genetische Merkmale waren, die in Chantelle zum Ausdruck kamen.
„Das finde ich auch“, gestand sie.
„Wie wer sehe ich aus?“, fragte Chantelle.
Emily hatte das Gefühl, dass diese Art von Fragen zu viel für das Kind war. Sie wollte augenblicklich das Thema beenden. Obwohl sie sich wie ein zitterndes Lamm fühlte, wusste sie, dass sie aufstehen und das Kommando übernehmen musste.
„Wie jemand, den wir vor langer Zeit gekannt haben, das ist alles“, sagte sie. „Komm schon, Opa Roy muss Papa kennen lernen.“
Chantelle wurde plötzlich eifrig. „Ich werde ihn holen.“ Sie strahlte und rannte zurück nach drinnen.
Emily seufzte. Sie verstand, warum ihr Vater von Chantelle so geschockt gewesen war, aber ein Fremder, der sie so anstarrte - als wäre sie ein Geist - war das letzte, was das Kind brauchte.
„Sie ist wirklich nicht dein biologisches Kind?“, fragte Roy in der Sekunde, in der das Kind verschwunden war.
Emily schüttelte den Kopf. „Ich weiß, es ist verrückt. Sie ist genauso feinfühlig wie sie. Und freundlich. Lustig. Kreativ. Ich kann es kaum erwarten, dass du sie kennenlernst.“ Dann brach ihre Stimme als ihr plötzliche der bange Gedanken kam, dass Roy vielleicht nicht bleiben würde, dass dies nur eine kurze Stippvisite war. Vielleicht hätte sie gar nicht erfahren sollen, dass er hier gewesen war. Vielleicht war es sein Plan, sie zu meiden und nur kurz aufzutauchen und wieder zu verschwinden, bevor sie mitbekam, dass er zurück war. So wie bei seinen heimlichen Ausflügen in seinem heruntergekommenen Auto, das Trevor von seinem Spionagefenster aus gesehen hatte. Sie rieb sich unbeholfen hinter ihrem Ohr. „Das heißt, wenn du Zeit hast.“
„Ich habe Zeit.“ Roy nickte und das kleine Flattern eines Lächelns erschien auf seinen Lippen.
In diesem Moment kam Chantelle zurück und zog Daniel hinter sich her. Er blieb an der Tür stehen und sah Roy an.
„Opa Roy?“, fragte er und hob die Augenbrauen, wobei er den Namen, den Chantelle so unschuldig an ihn weitergegeben hatte, deutlich wiederholte.
Emily sah den Blick, den die beiden austauschten und erinnerte sich daran, wie Daniel ihr von diesem Sommer erzählt hatte, als er ein Teenager gewesen war und einen Freund gebraucht hatte. Und wie Roy für ihn da gewesen war und ihm geholfen hatte, sein Leben wieder auf Kurs zu bringen. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass Roys sichere Rückkehr nach Sunset Harbor für Daniel genauso viel bedeutete wie für sie.
Roy bot Daniel seine Hand an, um sie zu schütteln. Aber zu Emilys Überraschung nahm Daniel die Hand und zog Roy in eine feste Umarmung. Sie spürte ein seltsames Ziehen in ihrer Brust, eine eigenartige Emotion, die irgendwo zwischen Freude und Trauer lag.
„Ich denke du hast Daniel schon mal getroffen“, sagte Emily und ihre Stimme brach erneut.
„Das habe ich“, antwortete Roy, als Daniel ihn aus seiner Umarmung entließ und ihn stattdessen an den Schultern fasste. Er schien von Gefühlen überwältigt zu sein, dabei, die feine Trennlinie zwischen Freudentränen und erleichterndem Lachen zu überschreiten.
„Wir werden heiraten“, fügte Emily etwas verdutzt hinzu.
„Ich weiß“, sagte Roy und grinste von einem Ohr zum anderen. „Ich habe deine E-Mail gelesen. Ich freue mich so.“
„Kommst du mit rein?“, fragte Daniel Roy leise.
„Wenn ich darf“, antwortete Roy und klang besorgt, dass er nicht wieder in Emilys Leben aufgenommen werden würde.
„Natürlich“, rief Emily aus. Sie umklammerte fest seine Hand und versuchte ihm damit zu zeigen, dass alles in Ordnung war, dass er hier willkommen war und akzeptiert wurde, dass seine Rückkehr zu ihr ein freudiges Ereignis war.
Roys Gesicht schien erleichtert zu sein. Er entspannte sich sichtlich, als wäre eine Last von ihm genommen, um die er sich Sorgen gemacht hatte.
Als sie zur Tür gingen, wurde Emily plötzlich bewusst, dass das Haus, das ihr Vater vor über zwanzig Jahren aufgegeben hatte, keine Ähnlichkeit mit seiner früheren Erscheinung mehr hatte. Sie hatte alles übernommen, alles verändert und hatte es von einem Familienheim in eine Pension verwandelt. Ob er darüber verärgert sein würde?
„Wir haben ein paar Renovierungsarbeiten gemacht“, sagte sie schnell.
„Emily Jane“, antwortete ihr Vater mit freundlicher, fester Stimme. „Ich weiß, dass du hier lebst und das Haus jetzt eine Pension ist. Das ist gut. Das freut mich für dich.“
Sie nickte, war aber immer noch besorgt, ihn hereinzulassen. Chantelle ging voran, und einer nach dem anderen gingen sie in die Empfangshalle. Roy bildete das Schlusslicht, sein Gang war langsamer und steifer, als es Emily in Erinnerung hatte.
Er blieb in der Halle stehen und sah sich mit vor Erstaunen und Ehrfurcht aufgerissenem Mund um. Als er die Empfangstheke