über seinem Hosenbund saß.
„Es ist noch genauso“, antwortete Emily. „Ich habe es nicht verändert.“
Er nickte, sagte aber kein Wort. Sie fragte sich, ob er über die unzähligen Dokumente nachdachte, die er in seinem Schreibtisch eingeschlossen und die sie nun gelesen hatte. Die Briefe und Geheimnisse, die sie von ihm gefunden hatte. Emily wusste, dass es unmöglich war zu wissen, was Roy dachte. Der Mann war ihr jetzt genauso ein Rätsel wie er es immer gewesen war.
Sie gingen in den dritten Stock, und Roy blieb eine Weile neben der Treppe zum Dachausguck stehen. Erinnerte er sich an diesen Silvesterabend, fragte sich Emily. Den einen, an dem er ihr gesagt hatte, sie solle keine Angst haben, ihre Augen öffnen und sich das Feuerwerk ansehen? Oder hatte er all diese Erlebnisse vergessen, wie sie es einmal getan hatte?
Chantelle hüpfte herum und zeigte ihm alle unbewohnten Gästezimmer. Sie schien aufgeregt, ihn hier zu haben, und so stolz, ihm ihr Zuhause zeigen zu können. Emily wünschte, sie könnte sich so leicht fühlen, wie es das Kind konnte, aber in ihrem Kopf ging so viel vor sich, dass sie völlig mit Pein erfüllt war.
„Ich bin wirklich erstaunt über die Arbeit, die du hier geleistet hast“, sagte Roy. „Es kann nicht leicht gewesen sein, alle Gästezimmer mit einem Bad auszustatten.“
„Das war es auch nicht“, antwortete Emily. „Wir hatten nur ungefähr vierundzwanzig Stunden, um es zu machen. Das ist eine lange Geschichte.“
„Ich habe Zeit.“ Roy lächelte.
Emily wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Zeit war nichts, was sie als selbstverständlich in Bezug auf ihn ansah. Sie konnte seinen Gefühlen nicht vertrauen.
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen“, sagte sie förmlich. „Möchtest du etwas trinken?“ Als ihr aufging, dass sie gerade einem Alkoholiker einen Drink angeboten hatte, fügte sie schnell hinzu: „Kaffee.“
Mit jedem Schritt die Treppe hinunter fühlte Emily ihren Ärger stärker werden. Sie hasste das Gefühl. Sie wollte, dass dieses Wiedersehen etwas Freudiges war. Aber wie sollte das möglich sein, wenn sie all diesen Groll in sich trug? Ihr Vater musste von dem Schmerz erfahren, den er ihr bereitet hatte.
Sie erreichten das Erdgeschoss. Daniel ging in die Küche um Kaffee zu machen, während Chantelle Roy ins Wohnzimmer führte. Er keuchte auf als in den renovierten Raum kam und sah, wie Emily neue Stile und alte Stile gemischt hatte, so wie sie moderne Kunst und Kandinsky-Glaswaren kombiniert hatte.
„Ist das mein altes Klavier?“, fragte er
Emily nickte. „Ich habe es restaurieren lassen. Der Typ der das gemacht hat, Owen, spielt manchmal hier. Er wird sogar auf unserer Hochzeit spielen.“
Zum ersten Mal fühlte Emily ein Gefühl des Triumphes. Da er nicht lange in Sunset Harbor gelebt hatte, war Owen niemand, den ihr Vater länger oder besser kannte als sie. Es gab Menschen hier, die völlig unbefangen waren, die nicht von der Unannehmlichkeit dieser gemeinsamen Vergangenheit befleckt waren.
„Owen hilft mir beim Singen“, sagte Chantelle.
„Oh, du singst?“, antwortete Roy. „Kann ich ein bisschen davon hören?“
„Vielleicht später“, warf Emily ein. „Chantelle hat mir versprochen, dass sie heute alle ihre Spielsachen aufräumt.“
„Kann ich es nicht später machen?“, jammerte Chantelle.
Sie wollte eindeutig mehr Zeit mit Opa Roy verbringen und Emily konnte es ihr nicht verdenken. An der Oberfläche war er wie ein sanfter Riese, wie ein großer Kuschelbär. Aber Emily konnte nicht länger wegen Chantelle ein vorgetäuschtes Lächeln aufsetzten. Es war Zeit für sie und ihren Vater, wie Erwachsene miteinander zu reden.
Emily schüttelte den Kopf. „Warum machst du es nicht jetzt, dann hast du den ganzen Tag Zeit mit Opa Roy zu spielen, okay?“
Chantelle gab nach und ging aus den Raum, wobei sie bei jedem Schritt aufstampfte.
„Du hast die Flüsterkneipe geöffnet“, bemerkte Roy und blickte auf die prächtig renovierte Bar. Er schien beeindruckt zu sein von der Art und Weise, wie Emily den Zeitgeist der Einrichtung auf die gleiche Weise erhalten hatte wie er, eine Hommage an vergangene Zeiten. „Weißt du, es ist noch genauso, wie es ursprünglich war.“
Sie nickte. „Das habe ich mir gedacht. Bis auf die Schnapsflaschen.“
Ohne Chantelle als Puffer zwischen sich, stieg sie Anspannung zwischen ihnen. Emily deutete auf das Sofa.
„Möchtest du dich hinsetzen?“
Roy nickte und setzte sich hin. Sein Gesicht war blass geworden, als ob er spürte, dass der Moment der Abrechnung kurz bevorstand.
Aber bevor Emily eine Chance dazu hatte, erschien Daniel mit einem Tablett, auf dem die Kaffeekanne, Sahne, Zucker und die Tassen standen. Er stellte es auf den Couchtisch. Stille breitete sich aus, als er die Getränke einschenkte.
Roy räusperte sich. „Emily Jane, wenn du Fragen hast, kannst du sie mir stellen.“
Emilys Fähigkeit, höflich und herzlich zu bleiben, verlor sich. „Warum hast du mich verlassen?“, platzte sie heraus.
Daniels Kopf fuhr überrascht hoch. Seine Augen waren so groß wie Untertassen. Er hatte wahrscheinlich nicht bemerkt, dass Emilys Freude, Roy zurück zu haben, auch ihren Ärger aufgebracht hatte und dass sie ihre Gefühle während der gesamten Hausführung zurückgehalten hatte. Er stand auf.
„Ich sollte euch beiden etwas Zeit geben“, sagte er höflich.
Emily richtete ihre Augen auf ihn. Er sah so peinlich berührt aus, als wäre er plötzlich in eine private Angelegenheit reingeplatzt. Emily fühlte sich ein wenig schuldig, dass sie die Unterhaltung in seiner Gegenwart so schnell unangenehm werden ließ, ohne ihm die Chance zu geben, sich höflicher zurück zu ziehen.
„Danke“, sagte sie, als er aus dem Raum eilte.
Sie wandte ihren Blick wieder ihrem Vater zu. Roy schien von ihrem offensichtlichen Schmerz verletzt zu sein, aber er atmete ruhig und sah sie mit sanften Augen an.
„Ich war gebrochen, Emily Jane“, begann er. „Nach dem Verlust von Charlotte war ich ein gebrochener Mann. Ich trank. Ich hatte Affären. Ich habe meine Freunde in New York City verprellt, bis ich es nicht mehr ertragen konnte, dort zu sein. Deine Mutter und ich haben uns getrennt, obwohl das lange gebraucht hatte. Ich bin hierhergekommen, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.“
„Du hast es nicht gemacht“, erwiderte Emily heftig. „Du bist weggelaufen. Du hast mich verlassen.“
Sie spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen. Die ihres Vaters wurden ebenfalls rot und verhangen. Er sah verschämt in seinen Schoß.
„Ich habe die Dinge einfach ignoriert“, sagte er traurig. „Ich dachte, ich könnte so tun, als wäre alles in Ordnung. Selbst noch Jahre später nach Charlottes Tod, habe ich keine Gefühle zugelassen. Ich bin nie in den Raum gegangen, den ihr euch geteilt habt, und ich habe dich in ein anderes Zimmer gesteckt, daran erinnerst du dich sicherlich.“
Emily nickte. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie ihr Vater ihr den Zugang zu Teilen des Hauses versperrte und ihr während ihrer Sommerbesuche den Zugang zu bestimmten Bereiche verboten hatte - den Dachausguck, den dritten Stock, die Garagen, sein Arbeitszimmer, den Keller -, bis sie fast vergessen hatte, dass sie jemals existierten hatten oder was sie enthielten. Sie erinnerte sich an sein zunehmend unberechenbares Verhalten, seine Besessenheit, Antiquitäten zu sammeln, die ihr weniger als Hobby und eher als ein Zwang erschienen war, und sein Hortungsverhalten. Aber darüber hinaus erinnerte sie sich auch an den schwindenden Kontakt, die Phase bis sie fünfzehn wurde und in der sie immer weniger Zeit mit ihm in Maine verbrachte. Und an