schreckliche Redensart im Lager »Stirb du heute, und ich morgen«.
1938 und 1937 arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern[85], und uns fehlten die Kräfte, die Schubkarre auf die Förderbrücke hochzubringen. Hilfshaken habe ich erst Ende 1938 gesehen. Über den zentralen Steg rollt man im Laufschritt.
Ich habe gelernt, die Karre zu kippen, auszuschütten und zurückzufahren über den »Leer-«Steg – die Schubkarre mit dem Rad voraus, mit den Griffen nach oben, dass die Arme ausruhen. Ich habe gelernt, mit der Schaufel zu arbeiten, habe irgendwann begriffen, warum der Stiel bis unters Kinn gehen muss, habe gelernt zu hacken, einen Fels abzutragen, zu bohren, aber ein Hauer ist aus mir nicht geworden – ich hungerte damals schon.
Den Winter mochte ich nicht. Ich hasste ihn. Jeden Tag stand ich auf wie zur Hinrichtung. In der Kälte kann man ja auch nicht denken. Du denkst an gar nichts – nur daran, dich zu wärmen. Ich habe gut verstanden, was ein Pferd fühlt. Ich fing an, wie ein Pferd, die Zeit für das Mittagessen ohne Uhr zu erraten – die Pferde in der Grube wiehern nämlich schon fünf Minuten vor dem Signal.
Die ersten Läuse erschienen schon Ende 1937. Die völlig verlauste Wollweste zog man mir von Mai an im Badehaus aus, der Badewärter bedampfte sie und wollte sie für sich nehmen, und ich fing an zu streiten, sie ihm »abzuschreien«, und wieder sammelten sich die Läuse. Es gab keine Desinfektionskammer, und bis in den Januar 1939 hatten wir ununterbrochen Läuse. Als man für einige Tage – ich hatte eine schöne Handschrift, und im März 1938 holte man mich ins MChTsch* (im Bergwerk »Partisan« waren um die dreitausend Häftlinge), die Lebensmittelkarten zu schreiben, da schlugen die Kameraden auf mir Läuse tot und beschwerten sich beim Chef, und der, der auf mein Verbrechen hingewiesen hat, übernahm meinen Platz im MChTsch. Der Platz war ja temporär.
Läuse sind etwas Schreckliches. Besonders viele hatte ich in Dshelgala 1943. Der gestrickte Baumwollschal bewegte sich, so viele waren sie da.
Kolesnikow Gawriil Semjonowitsch, ein Kamerad von Kossarjow, einer der wenigen, die sich das »Menschentum« bewahrt hatten, war in Dshelgala Sanitäter und Barackendienst. Er sagte zu mir:
»Was ist das Wichtigste in unserem Leben? Die Verschiebung der Maßstäbe. ›Etappen‹ und ›Durchgangslager‹ haben mir immer gefallen, weil hier auf ungreifbare Weise der Geist der Freiheit lebte, den es im Lager niemals gibt.«
Jeder ist für sich verantwortlich. Den Kameraden, den Partner nicht belehren, was er tun soll. Alles, was einen fremden Willen betrifft, ist nicht deine Sache – so die schlichten, aber schweren Lagergebote, die Erfahrung, Selbstbeherrschung und Furchtlosigkeit verlangen. Die Lagerchefs nahmen keinerlei kollektive Beschwerden und Proteste an. Jede Eingabe muss persönlich sein. Als aber die Frage der Bekämpfung von Fluchten anstand, da bestätigte die gesamte Brigade kollektiv, dass jeder den anderen beobachten und für Fluchten büßen wird. Und büßen mussten sie in Verhören, oder auch mit einem »Strafmaß«.
Ein beeindruckender Lagerausdruck, einer der geschliffensten: »Das Strafmaß in Gewicht ausgeben«, d. i. in den sieben Gramm der Kugel, erschießen.
Oder: »Das Strafmaß als Trockenration ausgeben«.
In der »Vitaminaußenstelle«. Schewzow, mein Partner:
»Gib mal das Beil.«
Er nahm mir das Beil aus den Händen und ging zu dem Baumstumpf, auf dem wir Brennholz gesägt hatten. Er legte die Hand auf den Stumpf, holte mit dem Beil aus, wurde blass, wurde blau, das Blut spritzte auf den Schnee und erstarrte sofort, ohne einzuziehen[86] – es war sehr kalt —, die drei abgehackten Finger verzogen sich und lagen im Schnee, kaum bemerklich, schmutzigen Holzspänen ähnlich. Schewzow krümmte sich zusammen und verstopfte mit dem Ärmel der Wattejacke das Blut.
Ich hob das weggeworfene Beil auf.
Schewzow wurde zum Krankenhaus geführt. Er wusste natürlich, dass man ihn im Krankenhaus nicht behalten wird, Gliederabhacker im Krankenhaus zu behalten war verboten – aber wenigstens einen Verband werden sie machen, das Blut zum Stillstand bringen.
Die Arbeit wurde wieder aufgenommen.
»Gute« Kaderakten-Daten sind: Russe, nie im Ausland gewesen, keine Fremdsprachen. Viele hielten ihre Sprachkenntnisse geheim.
Im Lager sagt man nicht: »zur Arbeit geführt« oder »zur Arbeit gegangen«, man sagt: »zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht«[87]. So und nur so sagen alle – die Chefs wie die Hftl./
Hftl.* selbst.
Der Schwarze See
Jeder Barackendienst hat seine Arbeiter, die alles tun für ein Süppchen, für ein Stück Brot – so auch im Bergwerk.
Aber es ging nicht <um> seine Sympathie oder sein Mitleid mit den dochodjagi. Er hätte dieses winzige Zimmer auch selbst putzen können, aber dass ein Barackendienst des MChTsch – und er hätte keinen eigenen Sklaven gehabt —, das ist unvorstellbar in den russischen Lagern.
Ich denke, der freie Chef meines Barackendienstes hätte ihn, wenn er erfahren hätte, dass der das winzige Kabinett selbst putzt, hinausgejagt zu den allgemeinen Arbeiten, weil er die ihm zustehende Macht nicht zu nutzen weiß und ihn, den Chef, mit Schande befleckt. Ganz Magadan hätte laut gelacht: das ist der Chef, dessen Barackendienst selbst die Böden wischt. Ich bekam Brot, der Barackendienst schüttete mir Machorka für eine Selbstgedrehte ab und [gab] mir einen Kupon für die Kantine, und [ich] habe entweder gegessen oder ihn meinen Nachbarn gegeben. Das Durchgangslager fing sogar an mir zu gefallen. Aber die Chefs waren nicht so einfach. Der riesige Speicher mit den vierstöckigen Pritschen[88] im Durchgangslager war leer. Bei einem Appell waren wir noch hundert Mann, und manchmal noch weniger. Nach dem nächsten Aufrufen entließ uns der Arbeitsanweiser nicht in die Baracke. Wohin sonst?
»Wir gehen in die URTsch zum Fingerabdrücke machen.«
Wir kamen in die URTsch.
»Wie ist dein Name?«
»Schalamow.«
»Und was meldest du dich zwei Monate nicht?«
»Ich habe nichts gehört, jeden Tag gehe ich zum Appell, man hat mich nie aufgerufen.«
»Weg hier, Kanaille.«
Wir mussten uns fertigmachen für die Etappe, und man schickte uns los, aber nicht in die Landwirtschaft oder zum Fischfang, sondern zur Kohleerkundung an den Schwarzen See. Zum Glück als Invaliden zur Versorgung von Freien, von Freien – gerade freigelassenen Häftlingen – ebenfalls aus dem Durchgangslager, aber Freien, die mit Dalstroj einen Jahresvertrag unterschrieben hatten, um sich etwas dazuzuverdienen. Der Chef des neuen Kohlereviers Paramonow, dem man keine Häftlinge gab – die wurden ins Gold gejagt —, erbat sich wenigstens sechs Mann zur Versorgung seiner freien Arbeiter. Ich sollte als Wassersieder[89] fahren, Gordejew als Wächter, Filippowskij als Badewärter, Nagibin als Ofensetzer, Frisorger als Tischler.
Die Freien hatten keine Kopeke, alles, bis auf die Wäsche, war verkauft oder verspielt im freien Durchgangslager, am sogenannten Karpunkt, der Quarantänestation, was dasselbe war wie die Etappe für die Häftlinge, nur kleiner – dieselbe Zone, dieselben Baracken. Der Karpunkt lag ganz dicht an der Etappe. Dieselben leeren Pritschen. Der Karpunkt hatte sich ebenfalls geleert. Die Dampfer waren abgefahren.
Und diese Habenichtse also hatte Paramonow an den Schwarzen See zur Kohleerkundung geholt, wo man nach Kohle suchte. Kohle und nicht Gold. Als wir zum ersten Mal in Atka übernachteten, im Klub der Straßenbauer, breiteten wir auf den Pritschen das Zelt aus, mit dem wir uns unterwegs auf dem Auto bedeckt hatten, und schliefen und schliefen. Die Freien hatten keine Kopeke Geld. Wir mussten Tabak kaufen. Es gab auch Machorka im freien Lager, und sie hatten das Recht, sie zu kaufen, sie waren schon keine Häftlinge mehr. Aber Geld hatte niemand. Der alte Nagibin gab ihnen einen Rubel, und für diesen Rubel wurde Machorka gekauft, unter allen gleich verteilt