alle müssen halt arbeiten. Sascha vergaß immer, die Großmutter zu fragen, wie das eigentlich gewesen war. Das da ist Großmutter, sie war ungefähr sechzehn oder jünger (sie wusste den Tag ihrer Geburt nicht und feierte ihren Geburtstag nie) – aber schon ein wunderbares Mädchen, alles war schon da. Und das Jahr 1933 stand vor der Tür.
Und hier, das ist Opa, mit einem Freund, 1938. Die Gesichter sind klar, die Augen weit geöffnet, hartes männliches Lächeln. Die Kommandantenuhr am Arm des Großvaters, riesengroß, zur Schau gestellt. Ein Genosse von halbkaukasischem Aussehen, aber so ein würdevoller Kaukasier, hell, glänzend von unten bis oben, als würde er auf mysteriöse Weise das Blitzlicht spiegeln. Das Jahr 1938. Warum lächeln alle?
Es geht ihnen gut. Sie sind zufrieden, weil sie fotografiert werden, das Leben liegt vor ihnen.
Der Freund des Großvaters, dessen Familiennamen Sascha vergessen hatte, starb den Heldentod im Vaterländischen Krieg, er war Pilot. Seine Büste steht beim Geschäft, ewig welke Blumen zu Füßen.
Der Großvater war unabkömmlich[65] – bis 1942 schickten sie ihn nicht an die Front, er war der beste Mähdrescherfahrer im Gebiet. Der Großvater war damals schon mit der Großmutter verheiratet, Kinder hatten sie jedoch noch keine.
Aber im Herbst 1942 musste auch der Großvater an die Front. Bald danach geriet er in Gefangenschaft[66]. Und den ganzen Krieg über blieb er dann in Gefangenschaft. Er erzählte nicht gerne davon. Gerne erinnerte er sich nur daran, wie ihm in der Gefangenschaft ein Hellseher vorausgesagt hatte, er würde achtzig Jahre alt.
»Die Leute starben unauf hörlich, mehrere Menschen jeden Tag«, sagte der Großvater. »Wir schliefen nebeneinander, damit es wärmer war, alle in einer Reihe. Alle drehten sich gleichzeitig von einer Seite auf die andere, mehrere Male pro Nacht. Du drehst dich um und der Nachbar neben dir streckt alle Viere von sich, er liegt kalt da … Mir hatte man prophezeit – und ich glaubte es nicht, niemand glaubte daran, dass er noch einen Tag leben werde – und da sagt man mir ›achtzig Jahre‹ voraus. Aber ich habe es erlebt. Und dann lebte ich noch ein Weilchen länger.«
Als Saschas Vater starb, war der Großvater bereits vierundachtzig.
Der Großvater erzählte bei der Totenfeier diese Geschichte noch einmal, und fügte hinzu: »Ich hätte mit achtzig sterben sollen. Die Söhne lebten noch. Ich wäre glücklich gestorben. Aber jetzt, Sankya, verstehe ich nicht, wozu ich gelebt habe, ich habe nichts – letztlich auch niemanden in die Welt gesetzt, es ist, als hätte ich gar nicht gelebt.«
Die Großmutter sagte: »Der Großvater hat die Gefangenschaft überlebt, weil er nicht rauchte. Die Deutschen gaben den Gefangenen Tabak und Brot. Der Großvater tauschte seinen Tabak bei anderen Gefangenen gegen Brot. Er gab ihn nicht einfach so her.«
Sascha dachte manchmal: Soll man das dem Großvater vorwerfen oder nicht? Es hätte Sascha auf der Welt gar nicht gegeben, hätte der Großvater nicht ein zusätzliches Stück Brot für den Tabak erhalten. Was soll ich ihm vorwerfen? Wenn du jemand beschuldigen willst, begib dich in diese Sklaverei, überlebe dort drei Jahre, gib den Tabak einfach so ab, während ihn die anderen tauschen, kommst du dann lebend zurück, kannst du Vorwürfe erheben.
Als der Großvater aus der Gefangenschaft zurückkehrte, wog er siebenundvierzig Kilo – bei einer Körpergröße von einem Meter dreiundachtzig.
Der Großvater erzählte außerdem noch: Als sie befreit wurden (von den Alliierten, den Amerikanern), machten er und einige seiner Genossen sich zu Fuß auf den Weg[67] zu den eigenen Leuten. Sie gingen durch eine befreite deutsche Siedlung, fanden ein Fass mit weißem Honig. Sie waren fünf Mann – und alle, außer dem Großvater, stürzten sich auf den Honig, um ihn zu essen, gleich mit den Händen, direkt aus dem Fass. Der Großvater warnte seine Kümmerlinge, das Zeug nicht zu essen – sie hörten nicht auf ihn. Sie aßen sich satt und begannen sofort zu erbrechen, zu taumeln und sich zu winden. So starben sie alle, nicht weit vom Fass mit dem weißen Honig.
Manchmal sah Sascha dieses Fass, gefüllt mit etwas Weißem und Dickflüssigem. Wie schmutzige bebende Finger mit langen Nägeln in den Honig gleiten. Zahnlose Münder, die von verdreckten Haaren umwachsen sind, schnappen nach dem Honig. Und der Honig verätzt die Kehle. Und der Großvater sitzt abseits, gebeugt und abgewandt. Vielleicht hatten Großvaters Weggefährten auch noch gelacht, einige Minuten lang waren sie sehr übermütig gewesen. Doch plötzlich setzte einer sich abrupt hin oder fiel sofort um, und die Augen weiteten sich vor Schmerz …
Und der Großvater ging allein weiter.
Von den Kommunisten wurde er ausgeschlossen, weil er in Gefangenschaft gewesen war. Er kehrte ins Dorf zurück, zu seiner Frau. Im Lauf der Nachkriegsjahre zeugten[68] sie drei Söhne.
Da sind sie, die Söhne – auf einem anderen Foto. Saschas Vater, Wasja, er steht zwischen Großmutter und Großvater, ein blonder Schopf, oder wie es hier im Dorf heißt – flachsblond[69], das bedeutet, dass die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren[70]. Der Großvater hält den mittleren Sohn auf den Armen, die Großmutter das kleine Söhnchen. Der Großvater – mager, hochgewachsen, abgearbeitet, streng. Die Großmutter – mit dunklem Gesicht, hohlwangig, sich selbst nicht ähnlich. Es war schwierig gewesen, die Kinder aufzuziehen.
Daneben eine andere Aufnahme – Saschas Urgroßvater mit Freunden – der Vater des Großvaters. Die festgehaltene Zeit: Der Erste Weltkrieg, vor dem Hintergrund eines Bunkers stehen vier Soldaten, mit – wie bei Pferden – langgezogenen Gesichtern, sinnlos, repräsentabel. An Urgroßvaters Brust drei Georgs- Orden. Er hat dann noch im Bürgerkrieg gekämpft und auch Auszeichnungen erhalten. Aus dem Bürgerkrieg waren allerdings keine Aufnahmen erhalten. Und die Auszeichnungen waren verloren gegangen.
Und hier ist Sascha selbst, vierzehnjährig, rosig, hellhäutig, die Haare wie zur Seite geleckt. Als er aus dem Dorf wegfuhr, war er, wie alle Dorfjungen, strohblond, in der Stadt verlor er die helle, seltene Färbung und wurde dunkelblond.
Sascha war mittlerweile der Einzige, der noch etwas über das Leben dieser Menschen wusste, die auf den Schwarzweißfotos abgebildet waren, zumindest war er ein Zeuge ihrer Existenz. Wenn die Großmutter stirbt, kann keiner mehr irgendwem erklären, wer hier abgebildet ist, welche Leute das sind – Stille. Ja, es wird auch niemand fragen, das braucht keiner. Die neuen Hausherren werden den Fotoaltar in das undurchdringliche Gestrüpp auf der anderen Straßenseite schmeißen, die Gesichter auf den Bildern werden verwaschen, und das war’s dann. Als wäre es nie gewesen[71].
Schon jetzt wusste Sascha nicht mehr, wer all die Menschen auf den vielen Fotos waren – vielleicht irgendwelche Verwandte der Großmutter, des Großvaters, vielleicht Nachbarn, mit denen sie befreundet gewesen waren, sonst noch wer. Die ganze Verwandtschaft ist weggestorben und die Freunde sind gestorben, es gab niemanden mehr, der sich erinnern konnte, wie die Großeltern in den Nachkriegsjahren eigentlich waren, ganz zu schweigen von der Zeit vor dem Krieg. Es hatte ja auch eine Hochzeit stattgefunden – die jungen Leute küssten sich scheu und die Gäste lärmten und tranken und alle lächelten, oder fast alle, vielleicht hat jemand missmutig in der Ecke gesessen und sich leise betrunken, auf jeder Hochzeit gibt es solche, trotzdem waren alle glücklich und lärmten … aber vermutlich ist kein Zeuge dieser Hochzeit mehr übrig geblieben.
Sascha erinnerte sich plötzlich, wie dem Großvater einmal herausgerutscht war, dass er mit der Großmutter in zweiter Ehe verheiratet sei. Die erste Frau hatte er am Tag nach der Hochzeit verlassen. Was sie eigentlich gemacht hatte, sagte der Großvater nicht. Angeekelt verlor er über seine erste Hochzeit ein paar Worte, die Sascha längst vergessen hatte, das war alles.
Dass der Großvater zwei Mal verheiratet gewesen war, beeindruckte Sascha sogar mehr als die furchtbaren Jahre, die der Großvater in Gefangenschaft verbracht hatte. Was war das für eine Ehefrau, was war das für ein Mädchen? Was hat sie getan? Hat der Großvater sie etwa mit