durch das trübe Glas ihre blaue Kleidung, die strengen Gesichter. Beim nächsten Halt lief er über den Bahnsteig am Waggon mit den Kontrolleuren vorbei und setzte sich wieder in die Ecke.
Manchmal saugte er an der zerschlagenen Lippe, sie brannte mittlerweile schon nicht mehr so schmerzhaft – sie heilte wie bei einer Katze.
Der Zug schien lautlos zu fahren, Sascha hörte nichts.
Hinter dem Fenster zogen Verwahrlosung und Trostlosigkeit vorbei. Er spiegelte sich im Glas – kurze Haare mit einem widerspenstigen Schopf, unrasiertes Kinn, dunkle Haut, die Stirn in frühen Falten … Ein gewöhnliches Gesicht.
Sascha kam in seiner Stadt an, die Türen des Zuges klappten hinter ihm zu, als wäre er ein Überbleibsel, das einfach abgeschnitten wurde.
Den blödsinnigen Gedanken, im Treppenhaus würde schon ein Hinterhalt auf ihn warten, verscheuchte er (»… da sie im ganzen Lande Fallen errichtet haben«), und lief ins Haus.
Das Schloss machte das übliche Geräusch, ein weiches Klicken. Die Tür ging auf.
Die Mutter arbeitete in der Nachtschicht, die Wohnung war leer.
Sascha rief einen Bekannten an und bat ihn, ihn ins Dorf zu bringen. Der Mann antwortete missmutig: »Ich fahre heute«.
Er hinterließ der Mutter einen Zettel: »Mama, alles in Ordnung«.
Zum Dorf kam er unter dem üblichen Gerumpel. Die »Kopeke« schepperte, auf der Windschutzscheibe hing statt des Zulassungsscheins ein kleiner Kalender des aktuellen Jahres; die Jahreszahlen in fetter Schrift sollten die Verkehrshüter[55] täuschen. Auf dem Weg ins Dorf sahen sie nur einen Posten, der Milizionär schaute angewidert Richtung »Kopeke« und drehte sich weg.
Der Mann schwieg den ganzen Weg über, horchte manchmal auf den Motor, der die unterschiedlichsten Klappergeräusche von sich gab. Die Abfolge dieser Geräusche erschien Sascha willkürlich. Der Mann aber, so schien es zumindest, konnte alle Bestandteile dieser Kakophonie unterscheiden.
Als sie am Posten vorbeikamen, verkrampfte der Fahrer ein wenig, seine Augen wurden schwerer, er hielt das Steuer fester und konzentrierte sich allein auf die Straße, da er befürchtete, er könnte den Milizionär mit seinem Blick streifen – als wäre es der Leibhaftige höchstpersönlich. Einen Augenblick später war der Fahrer wieder ruhig. Und Sascha vermutlich auch.
Bald nach dem Posten ging die Asphaltstraße in einen Feldweg über. Dieser Feldweg lief, vorbei an Gärten und durch zwei ruhige Dörfer, in denen es nicht einmal Hunde gab, auf einen Fichtenwald zu. Im Wald war es finster. Die über einer ehemaligen Schmalspurbahn verlaufende Straße war eine Folter, es tat regelrecht weh, wenn das Fahrzeug gegen ihre harten Rillen prallte.
Die »Kopeke« irrlichterte mit einem Schweinwerfer in die Gegend, der zweite gab gerade ausreichend Licht für sich selbst. Im Lichtkegel bogen sich Äste mit zitterndem Laub. Angst vor Dunkelheit und Bäumen von irgendwo aus der Kindheit überkam ihn, Sascha zündete sich eine Zigarette an – es verging wieder.
Er erinnerte sich daran, wie er dem Vater einmal beim Mähen geholfen hatte, Sascha war damals etwa zehn. Eigentlich mähte der Vater, wenn er aber eine Rauchpause machte, unternahm Sascha seine Mähversuche, sonst rechte er das vom Vater gemähte Gras in Reihen. Die Dämmerung brach herein, sie hätten mit dem Lastwagen abgeholt werden sollen, doch niemand kam. Der Vater zündete ein Feuer an. Sascha sammelte Äste, er hatte Angst, sich vom Feuer zu entfernen. Der Vater aber verschwand von der Wiese in den Wald, Sascha hörte voller Angst das Knacken der brechenden Äste; plötzlich erschien der Vater wieder, seine Beute war reich. Das Feuer flammte auf, das Geäst knackte.
Jetzt kommt diese Wiese … Hier ist sie.
Der Lastwagen war schließlich doch noch gekommen. Der Vater sagte zum Fahrer: »Ich werde hier übernachten.« Als sie wegfuhren, blickte Sascha aus dem Fenster des Lastwagens. Der Vater stand vom Feuer abgewandt. Sein Gesicht konnte Sascha nicht sehen.
»Was? Was wäre gewesen, wenn du’s gesehen hättest? … Was hättest du gesehen?«
Die Stimme war ironisch, ja erregt. Sascha mochte diese Stimme nicht und antwortete ihr nicht. Einen Moment lang zog er die Augen zusammen und versuchte sich abzulenken.
Die verdreckte Windschutzscheibe. Der Kalender. Die abgeschlagene Sonnenblende. Das Innere des Handschuhfachs mit der abgebrochenen Klappe. Sascha legte die herausfallenden Streichhölzer zweimal zurück, dann warf er die Schachtel nebenden Schalthebel. Die Bartstoppeln des Fahrers.
Im Dorf verrottete langsam das Haus des Fahrers.
Saschas Großvater und Großmutter lebten auf dem Dorf, die Eltern des Vaters. Er hatte sie ein Jahr lang nicht gesehen. Weder im Herbst noch im Winter konnte man ins Dorf fahren, auch im Frühjahr war es fast unmöglich – es sei denn, der Mai war trocken und warm. Es sei denn – mit einem Traktor. Selten wagte sich jemand mit einem anderen Transportmittel dorthin.
Er wollte nicht mehr rauchen, die Zigaretten verkürzten nicht wie sonst den Weg, sondern waren wie dieser fad und geschmacklos; als das Auto über eine Rille des schmalen Weges holperte, fiel Asche auf die Hose, und der Fahrer sah mit scheelem Blick, wie Sascha leuchtende Fünkchen von sich wischte.
»Trottel«, beschimpfte Sascha sich selbst und bedauerte die durchgebrannte Hose, die nicht zu Ende gerauchte Zigarette warf er aus dem Fenster.
Sascha rutschte den Sitz hinunter, fast liegend streckte er die Beine und versuchte wenigstens für kurze Zeit, den von der Fahrt ermüdeten Körper zu entspannen. Eine weitere Unebenheit schleuderte Sascha zum Fahrer hin. Sascha wollte sich entschuldigen, überlegte es sich aber anders, und starrte aufrecht sitzend geradeaus.
… Im Kopf sammelten sich ziemlich wirre und für Sascha gleichgültige Dinge. Im nächsten Moment bemerkte er verwundert dieses Gekrabbel seiner – wie er meinte – Gedanken; eine flaue Wirrnis unkontrollierbarer Bemerkungen, eine Verbindung von etwas Undeutlichem mit schon Vergessenem.
Einsamkeit, so schien es Sascha, ist gerade deswegen unerreichbar, weil man in Wahrheit nicht mit sich selbst allein bleiben kann – unberührt von den Reflexen, die in dir jene hinterlassen haben, die an dir nur vorbeikamen, ohne besondere Beleidigung, Fehler und Verletzungen. Was sollte das für eine Einsamkeit sein, wenn der Mensch ein Gedächtnis hat – es ist immer da, streng und ruhig.
»Was ist das für eine Einsamkeit«, überlegte Sascha, »wenn alles, alles in dir und von dir Erlebte einem Eisverkäufer gleicht, der alles verkauft hat, mit seinem Bauchladen dennoch weiterzieht, ihn dann neben sich abstellt, wenn er sich schlafen legt, kalt …« Er grinste verschmitzt über sich selbst. »Irrsinn. Was für ein Irrsinn«, sagte eine Stimme. Sascha antwortete wieder nicht, aber dieses Mal stimmte er zu.
Das Dorf war dunkel, in vielen Häusern brannte kein Licht.
Für Sascha gab es keinen Grund, irgendwie lebendiger zu werden, nur weil er an den Ort zurückkehrte, an dem er aufgewachsen war.
Er hatte schon seit langem den Eindruck, es sei schwierig, bei der Rückkehr ins Dorf Freude zu empfinden, so trost- und farblos war, was sich dem Blick darbot.
Einige Dorfbewohner, die der »Kopeke« am Straßenrand langsam entgegenkamen, blieben stehen und schauten ins Auto. Wer ist das, zu wem kommen sie? Sascha versuchte, die Herumstehenden nicht anzuschauen, um nur ja niemanden zu erkennen. Alles war fremd.
Der Fahrer fuhr zu seinem Haus.
»Findest du hin?«[56] Das klang kaum wie eine Frage, eher wie eine ausdruckslos einfache Feststellung.
»Ich finde den Weg«, sagte Sascha, der sich Mühe gab, es nicht wie eine etwa beleidigte Antwort klingen zu lassen (was ihm schlecht gelang), er kroch aus dem Auto.
Das Geld für die Fahrt hatte Sascha schon in der Stadt gezahlt. Er streckte sich und ging auf der im Dunkel versunkenen Straße Richtung Elternhaus.
Der Weg war verwüstet und voller Dreck[57]. Aus manchen Häusern wurden Abfälle, Essensreste und Spülwasser direkt