Lebensfähigkeit zweifelte. Aber der Schmerz über den Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers entwickelte in der alten Jungfer das Muttergefühl, welches Gott in jedes weibliche Herz gelegt hat, welches aber in dem Herzen einer alten Jungfer verknöchert und ertödtet wird.
Der sehnlichste Wunsch der Stiftsdame war, die Teure, welche sie beweinte, einst wiederzufinden, nachdem sie sich der Pflicht, die ihr zugefallen, eifrig und gewissenhaft entledigt. Mit der Zähigkeit, welche älteren unverheirateten Personen eigen zu sein pflegt, widmete sie dem Kind alle Geduld und Selbstverleugnung , deren sie fähig war, und es gelang ihr, den Mann der Wissenschaft, der doch mit größerer Gewissheit den Tod prophezeien als das Leben versprechen kann, Lügen zu strafen.
Sobald die Wege frei waren, begab sich Mademoiselle de Beauterne mit ihrem Schatz – so nannte sie den kleinen Stanislas Dieudonné de la Graverie – nach Deutschland, um sich in das Damenstift, dem sie angehörte zurückzuziehen.
In diesen halb weltlichen, halb klösterlichen Umgebungen wurde der kleine Dieudonné erzogen. Die guten, freundlichen Damen widmeten ihm die zärtlichste Sorge; denn die tragischen Verhältnisse, unter denen er geboren war, hatten die Teilnahme der Bewohnerinnen des Stiftes in hohem Grade geweckt. Ein Prinz, ein Thronerbe konnte nicht ängstlicher gehegt und gepflegt werden: eine Träne des Kindes verursachte eine allgemeine Migräne unter allen Stiftsdamen; jeder neu hervorbrechende Zahn hatte zehn schlaflose Nächte im Gefolge, und hätte die Tante nicht einen äußerst strengen Sanitätscordon um den kleinen Liebling gezogen, so würde man ihn in seiner zartesten Kindheit mit Zuckerplätzchen zu Tode gefuttert haben; unsere Erzählung wäre dann schon zu Ende, oder hätte vielmehr gar nicht begonnen.
Diese allgemeine Verzärtlung blieb indes nicht ohne allen Einfluss auf seine Erziehung.
Mademoiselle de Beauterne machte eines schönen Tages den Vorschlag, ihren kleinen Neffen den Jesuiten in Freiburg zur Erziehung anzuvertrauen’ gegen diesen Plan eiferten jedoch die übrigen Stiftsdamen mit lautem Zetergeschrei, so dass die Tante, die sich im Grunde sehr ungern von dem kleinen Dieudonné trennte, der allgemeinen Entrüstung nicht Trotz bieten mochte. Der Knabe blieb also und wurde wie zuvor von den guten Damen als Spielzeug betrachtet, man könnte fast sagen als Idol vergöttert. Von Ernst und Strenge war, selbst als er das lernfähige Alter erreichte, gar keine Rede; es stand dem kleinen Menschen so ziemlich frei zu lernen was ihm beliebte, und da ihn die Natur nicht mit einem über» mäßigen Wissensdrange begabt hatte, so blieb er sehr unwissend.
Es war vernünftigerweise nicht zu erwarten, dass die guten, würdigen Damen für die moralische Erziehung ihres Zöglings besser sorgen würden, als für seine geistige Ausbildung. Man machte ihn weder mit den Menschen bekannt, unter denen er einst leben, noch mit den Sitten und Gebräuchen, denen er sich einst fügen musste; ja, man suchte Alles, was die Gefühle des kleinen Lieblings im mindesten verletzen konnte, sorgfältig von ihm fern zu halten, und entwickelte durch diese Verzärtlung die angeborene Reizbarkeit des Knaben.
Ebenso ging es mit den zur Erziehung eines jungen Edelmannes gehörenden Leibesübungen. Die Stiftsdamen wollten dem kleinen Dieudonné durchaus keinen Reitunterricht geben lassen; er bestieg nur den Esel des Gärtners, und dabei führte immer eine der Damen den Esel am Zügel.
In der Stadt, wo sich das Damenstift befand, war ein vortrefflicher Fechtmeister. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob Dieudonné nicht fechten lernen sollte. Die Frage wurde nach einer sehr kurzen Debatte einstimmig verneint; es war ja kaum denkbar, dass der Chevalier de la Graverie bei seinem sanften, liebenswürdigen Charakter jemals in Streit gerochen würde; nur ein Ungeheuer von Bosheit und Rohheit könnte ihm zürnen – und Gott sei Dank! die Ungeheuer sind selten.
Hundert Schritte von dem Damenstift schlängelte sich ein schöner klarer Fluß durch blühende Wiesen. Hier übten sich die Schüler des Gymnasiums im Schwimmen. Man konnte Dieudonné dreimal wöchentlich unter der Aufsicht eines Schwimmlehrers dahin schicken; aber das kühle Flusswasser konnte dem zarten Knaben schaden, er musste sich daher begnügen, zweimal wöchentlich in der Badewanne seiner Tante zu plätschern.
Dieudonné lernte also weder schwimmen noch fechten noch reiten. Er erhielt etwa dieselbe Erziehung wie Achilles; aber wenn mitten unter den Damen, die den Chevalier de la Graverie umgaben, plötzlich ein Ulysses erschienen wäre und ein Schwert aus der Scheide gezogen hätte, so würde Dieudonné wahrscheinlich nicht, wie der Sohn der Thetis und des Peleus, auf das Schwert losgestürzt, sondern von dem Glanz der Klinge geblendet, fortgelaufen sein, um sich in dem tiefsten Keller zu verkriechen.
Alles dieses wirkte höchst nachteilig auf die physische und moralische Entwickelung des jungen Chevalier. Er war sechzehn Jahre alt und konnte vor dem Gesicht eines Andern keine Klinge funkeln sehen, ohne in Tränen auszubrechen. Der Tod seines Sperlings oder Kanarienvogels verursachte ihm Nervenzucken; er dichtete rührende Elegien auf den Tod eines aus Versehen zertretenen Maikäfers – Alles zur größten Freude der Stiftsdamen, welche sein feines Gefühl priesen, ohne zu ahnen, dass diese Empfindung dabei ihr Idol entweder zu einem vorzeitigen Ende führen oder in diesen über zarten Gefühlen eine egoistische Reaktion bewirken müsse.
Unter diesen Umständen war kaum zu erwarten, dass Dieudonné von seinen Lehrerinnen in der Kunst zu gefallen und zu lieben unterrichtet wurde. Aber es fehlte ihm keineswegs an Gelegenheit und Anleitung Das Fräulein von Florsheim, eine der Stiftsdamen, hatte eine Nichte bei sich. Mathilde war zwei Jahre jünger als Dieudonné. Sie war blond und hatte schmachtende blaue Augen, wie die meisten deutschen Mädchen.
Sobald die beiden Kinder ohne Gängelband laufen konnten, machte es den Damen großes Begnügen, unzertrennliche Gespielen aus ihnen zu machen. Dieudonné, der, den Halsbrechenden Künsten des Reitens. Fechtens und Schwimmens mit ängstlicher Sorgfalt ferngehalten wurde, bekam dafür eine andere Dressur. Wenn er, wie ein Wateauscher Schäfer aufgeputzt, mit einem Vergissmeinnichtstrauß kam, so lehrte man ihn denselben seiner kleinen Freundin mit chevaleresker Kniebeugung zu überreichen. Bei schlechtem Wetter setzte sich Mademoiselle de Beauterne an ihr Klavier und spielte eine Menuett, nach welcher sich Dieudonné und Mathilde wie zwei Gliederpuppen unter lautem Applaus der Stiftsdamen bewegten.
Nach beendeter Menuett küsste der himmelblaue Schäfer mit galantem Anstand das weiße parfümierte Händchen der Schäferin. Die guten Damen waren entzückt, sie herzten und küssten die beiden Kinder und nannten sie den kleinen Mann und die kleine Frau. Wenn man sie, wie zwei Liebende en miniature, im Garten lustwandeln sah, schaute man ihnen mit Wohlgefallen nach, statt ihnen zuzurufen: Kehrt um, Kinder, die Einsamkeit ist gefährlich!
So kam es denn, dass die beiden Kinder die ihrem Alter zukommenden Spiele verschmähten und sich Empfindeleien überließen, welche, wie harmlos sie den guten Damen auch schienen, bald die bedenklichsten Verirrungen im Gefolge hatten.
V
Erste und letzte Liebe des Chevalier de la Graverie
Als Mathilde fünfzehn und Dieudonné siebzehn Jahre alt war, schien die bisherige Zärtlichkeit einer seltsamen Kälte Platz zu machen. Der junge Chevalier brachte kein Vergissmeinnicht mehr aus dem Garten und nach beendeter Menuett küsste er die Hand Mathildens nicht mehr, sondern beurlaubte sich mit einer leichten Verbeugung. Es wurden sogar die einsamen Gartenpromenaden eingestellt.
Ein aufmerksamer Beobachter würde freilich bemerkt haben, dass Mathilde oft einen welken Blumenstrauß zärtlich an die Lippen drückte und dann schnell wieder in ihr Korsett steckte; dass sie errötete, wenn sie ihrem himmelblauen Schäfer in der Menuett die Hand reichte, und dass Beide wie von einem elektrischen Fluidum durchzuckt schienen. Derselbe Beobachter würde bemerkt haben, dass sie zwar in verschiedenen Richtungen durch den Garten gingen, aber nach einer Weile an einem kleinen plätschernden Wasserfalle zusammentrafen.
An dem Tage, wo Dieudonné sein achtzehntes Jahr vollendete, erschien er in dem Zimmer seiner Tante, machte die drei Verbeugungen, die er einstudiert hatte für den Fall, dass er der Großherzogin Stephanie von Baden oder der Königin Louise von Preußen vorgestellt würde, und fragte mit wohlgesetzten Worten, wann er mit Mathilde von Florsheim den Ehebund schließen könne.
Die Stiftsdame wurde durch diese Frage in ungeheure Heiterkeit versetzt, welche sich am Ende in einen bedenklichen Keuchhusten auflöste. Während sie lachte und hustete,