wußte es nicht.«
»Aber nun weist er es vielleicht,« sprach Caderousse. »Man sagt, die Toten wissen Alles.«
Es trat ein kurzes Stillschweigen ein: der Abbé war aufgestanden und ging nachdenkend auf und ab; dann kehrte er zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder.
»Sie haben mir schon zwei- oder dreimal einen gewissen Herrn Morrel genannt?« sagte er. »Wer war dieser Mann?«
»Der Reeder des Pharaon, der Patron von Dantes.«
»Und welche Rolle spielte er bei dieser traurigen Angelegenheit?«
»Die Rolle eines redlichen, mutigen, liebevollen Mannes. Zwanzigmal verwendete er sich für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieb er, bat er, drohte er, dergestalt, daß er bei der zweiten Restauration als Bonapartist gewaltig verfolgt wurde. Zwanzigmal kam er, wie ich Ihnen sagte, zu dem Vater von Dantes, um ihn in sein Haus zu nehmen, und einen oder zwei Tage vor seinem Tode ließ er, wie ich ebenfalls erwähnte, eine Börse auf dem Kamine, womit man die Schulden des guten Mannes bezahlte und seine Beerdigung besorgte, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne Jemand Unrecht zu tun. Ich habe die Börse noch, eine große Börse von roter Seide.«
»Und dieser Herr Morrel lebt noch?«
»Ja.«
»Dann muß er ein vom Himmel gesegneter Mann, er muß reich, er muß glücklich sein?«
Caderousse lächelte bitter und erwiderte:
»Ja, glücklich wie ich.«
»Wie, Herr Morrel wäre unglücklich?« rief der Abbé.
»Er ist der Armut nahe, mehr noch, er steht an der Grenze der Schande.«
»Wie so?«
»Ja es ist, wie ich sage; nach fünfundzwanzigjähriger Arbeit, nachdem er die ehrenvollste Stellung in der Handelswelt von Marseille erlangt hatte, ist Herr Morrel völlig zu Grunde gerichtet. Er hat fünf Schiffe in zwei Jahren verloren, drei Bankerotte erlitten, und seine einzige Hoffnung steht nun auf eben diesem Pharaon, den der arme Dantes commandirte, dieses Schiff soll mit einer Ladung Cochenille und Indigo aus Indien zurückkommen, bleibt es auch aus, wie die andern, so ist er verloren.«
»Hat der Unglückliche eine Frau, Kinder?« fragte der Abbé.
»Ja, er hat eine Frau, welche sich unter allen diesen Umständen wie eine Heilige benimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten sollte, den sie liebt, den aber seine Familie ein zu Grunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will: er hat endlich einen Sohn, der Lieutenant bei der Armee ist. Doch Sie begreifen: alles Dies verdoppelt seinen Schmerz, statt ihn dem armen Mann zu mildern. Wäre er allein, so würde er sich die Hirnschale zerschmettern, und Alles wäre abgemacht.«
»Das ist furchtbar!« murmelte der Abbé.
»So belohnt Gott die Tugend!« sprach Caderousse.
»Ich, der ich, abgesehen von dem, was ich Ihnen erzählte, nie eine schlechte Handlung begangen habe, bin im Elend; nachdem ich meine arme Frau am Fieber habe hinscheiden sehen, ohne etwas für sie tun zu können, werde ich Hungers sterben, wie der alte Dantes, während Fernand und Danglars sich auf dem Golde wälzen.«
»Wie dies?«
»Weil sich bei ihnen Alles zum Guten gewendet hat, wie sich bei ehrlichen Leuten Alles zum Schlimmen wendet.«
»Was ist aus Danglars, dem Schuldigsten, dem Anstifter geworden?«
»Was aus ihm geworden ist? er hat Marseille verlassen, und ist auf die Empfehlung von Herrn Morrel der nichts von seinem Verbrechen wußte, bei einem spanischen Banquier als Commis eingetreten. Zur Zeit des spanischen Krieges beteiligte er sich bei den Lieferungen für das französische Heer und machte Glück; mit diesem ersten Gelde spielte er in den Fonds und verdreifachte, vervierfachte sein Vermögen; selbst Wittwer von der Tochter seines Banquier heiratete er sodann eine Wittwe, Frau von Nargonne, Tochter von Herrn von Servieurx, welcher Kammerherr des gegenwärtigen Königs ist und sich der höchsten Gunst erfreut. Er hatte sich zum Millionär gemacht. man machte ihn zum Grafen, und er hat nun ein Hotel in der Rue du Mont-Blanc, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lackeien in seinem Vorzimmer, und ich weiß nicht wie viel Millionen in seinen Kassen.«
»Ah l« rief der Abbé mit einem seltsamen Ausdrücke;»und er ist glücklich?«
»Glücklich . . . wer kann das sagen? Glück oder Unglück, das ist das Geheimnis der Wände; die Wände haben Ohren, aber keine Zunge; ist man glücklich mit einem großen Vermögen, so ist Danglars glücklich.«
»Und Fernand?«
»Fernand? das ist etwas ganz Anderes.«
»Aber wie konnte ein armer catalonischer Fischer ohne Mittel, ohne Erziehung Glück machen; ich muß gestehen, das übersteigt meine Begriffe.«
»Es übersteigt die Begriffe von aller Welt, und es muß in seinem Leben ein seltsames Geheimnis obwalten, das Niemand kennt.«
»Aus welchen sichtbaren Leitern ist er denn zu diesem großen Vermögen oder zu dieser hohen Stellung hinaufgestiegen?«
»Zu Beidem mein Herr, zu Beidem: er hat zugleich Vermögen und Stellung.«
»Sie erzählen mir ein Märchen?«
»Es sieht allerdings ganz so aus, aber hören Sie und Sie werden begreifen. Fernand war einige Tage vor der Rückkehr von Dantes der Conscription verfallen. Die Bourbonen ließen ihn ruhig bei den Cataloniern; aber Napoleon kehrte zurück: eine außerordentliche Aushebung wurde decretirt, und Fernand sah sich genötigt, abzugehen. Ich ging auch ab, da ich aber älter war als Fernand und meine arme Frau kurz zuvor geheiratet hatte, so schickte man mich nur auf die Küste. Fernand wurde bei den aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze, und wohnte der Schlacht bei Ligny bei. In der Nacht, welche auf das Treffen folgte, stand er Schildwache vor der Thüre eines Generals, der eine geheime Verbindung mit dem Feinde unterhielt. In derselben Nacht sollte der General mit den Engländern zusammentreffen; er schlug Fernand vor, ihn zu begleiten; Fernand willigte ein, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernand vor ein Kriegsgericht gebracht hätte, wenn Napoleon auf dem Throne geblieben wäre, diente ihm bei den Bourbonen zur Empfehlung. Er kehrte nach Frankreich mit der Epaulette des Unterlieutenant zurück, und da ihn die Protection des Generals, welcher in hoher Gunst steht, nicht verließ, so war er Kapitän im Jahre1823, während des spanischen Krieges, das heißt in dem Augenblick, wo Danglars seine ersten Speculationen machte. Fernand war Spanier; er wurde nach Madrid geschickt, um den Geist seiner Landsleute zu erforschen. Er fand dort Danglars, verabredete sich mit ihm, verhieß seinem General eine Unterstützung unter den Royalisten der Hauptstadt und der Provinzen, erhielt Versprechungen, übernahm Verbindlichkeiten, führte sein Regiment auf Wegen, die nur ihm allein bekannt waren, in Schlünde, welche von den Royalisten bewacht wurden, und leistete endlich in diesem kurzen Feldzug solche Dienste, daß er nach der Einnahme von Trocadero zum Obersten ernannt wurde und das Offizierskreuz der Ehrenlegion mit dem Baronentitel erhielt.«
»Verhängnis! Verhängnis!« murmelte der Abbé.
»Ja, doch hören Sie, das ist noch nicht Alles. Als der spanische Krieg beendigt war, fand sich die Laufbahn von Fernand durch den langen Frieden gefährdet, welcher voraussichtlich in Europa herrschen mußte. Griechenland allein hatte sich gegen die Türkei erhoben und seinen Unabhängigkeitskrieg begonnen; Aller Augen waren auf Athen gerichtet; die Mode heischte, die Griechen zu beklagen und zu unterstützen. Ohne sie offen in Schutz zu nehmen, duldete die französische Regierung, wie Sie wissen, teilweise Wanderungen zu ihnen. Fernand erbat sich und erhielt die Erlaubnis, in Griechenland zu dienen, während er nichtsdestoweniger in den Armeelisten fortgeführt wurde. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß der Baron von Morcerf, dies war der Name, den er führte, in die Dienste von Ali Pascha mit dem Grade eines Generalinstructors eingetreten war. Ali Pascha wurde getötet, wie Sie wissen; aber ehe er starb, belohnte er die Dienste von Fernand, indem er ihm eine beträchtliche Summe zustellen liest, mit welcher Fernand nach Frankreich zurückkehrte, wo ihm sein Grad als Generallieutenant bestätigt wurde.«
»Heute also?« fragte der