Александр Дюма

Die Flucht nach Varennes


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      Die Flucht nach Varennes

Varennes, 24. Juli 1856.An denHerrn Hauptredacteur des »Journal für Alle.«

      Sie wünschten von mir einen Roman von zehn- bis zwanzigtausend Zeilen über die französische Revolution, und laut unseres abgeschlossenen Vertrages soll »René d’Argonne« – dies ist der Titel des Romans – binnen drei Monaten in Ihren Händen seyn. Wenn man aber die Ehre hat, für ein Journal wie das Ihrige, welches einen so großen Leserkreis hat, zu arbeiten, so muß man wohl bedenken, was man schreibt.

      Es handelt sich hier um einen historischen Roman; die Erzählung beginnt in dem Städtchen Varennes, in der Nacht vom 22. zum 23. Juni 1791, das ist in dem Zeitpunkt, wo der König und die Königin verhaftet wurden. Um alle Thatsachen im historischer Genauigkeit vorzustellen, begann ich Alles was über diese Katastrophe und über die derselben vorausgegangenen Ereignisse geschrieben ist, noch einmal zu lesen. Diese Lectüre war keineswegs neu für mich: ich hatte bereits früher, als ich die Geschichte Ludwigs XVI. und der Revolution und den Roman: »Die Gräfin von Charny« schreiben wollte, alle auf jene folgenschwere Epoche bezüglichen Werke gelesen – und zwar nicht blos die eigentlichen Historiker Georget, Lacretelle, Thiers, Michelet, Louis Blanc, sondern auch die Memoiren von Bertrand de Malleville, Bouillé, Choiseul, Valory, de Moustier, Goguelat. Die drei Letztern waren Augenzeugen der Ereignisse.

      Aber ungeachtet des Lichtes, welches die Historiker und Chronisten um sich verbreiten, schlichen sich in meine Darstellung einige Fehler ein, welche mir von einigen meiner Leser zu Châlons, Sainte-Ménehould und Varennes mit dem freundlichen Anerbieten berichtigender Notizen angedeutet wurden.

      Die Zeit scheint mit jetzt gekommen, dieses dankenswerthe Anerbieten meiner Correspondenten zu benutzen und mich selbst an Ort und Stelle zu begeben, und alles genau zu ermitteln. Ich begab mich nach Châlons, denn zu Châlons wurde Ludwig XVI. erkannt, und dort beginnt die Reihe der Ereignisse, welche zu Varennes mit der Verhaftung des Königs enden. Von Châlons an wollte ich Schritt für Schritt den Weg verfolgen, welchen die erlauchten Flüchtlinge genommen hatten; an jedem Orte, wo sie Halt gemacht, wollte ich nicht nur die gedruckten Erzählungen, sondern auch die mündlichen Ueberlieferungen, ja die Aussagen einiger noch lebenden Augenzeugen benutzen.

      Die Flucht nach Varennes ist in der That das bedeutendste, folgenschwerste Ereigniß der französischen Revolution, ja der ganzen französischen Geschichte; sie ist der Culminationspunkt des Königthums: es hatte sich in siebenhundert Jahren zu dieser Höhe aufgeschwungen – um in neunzehn Monaten auf dem Revolutionsplatz zu fallen. Als Ludwig XVI. die Treppe im Hause des Krämers Sauce bestieg, that er den ersten Schritt zum Blutgerüste.

      Doch wir erklären die Flucht nach Varennes nicht blos in Bezug auf die königliche Familie für ein so wichtiges Ereigniß; nicht weil drei der in dem verhängnißvollen Wagen befindlichen Personen dem Dämon der Revolution als Opfer fallen sollten, ist dieses Ereigniß so wichtig und folgenschwer, sondern weil die Verhaftung des Königs in dem vorher unbekannten und nachmals so berühmt gewordenen Städtchen die Quelle aller später erfolgten gewaltigen Erschütterungen und Staatsumwälzungen geworden ist. Hätte Ludwig XVI. keinen Versuch gemacht zu fliehen, oder wäre ihm sein Fluchtversuch gelungen. so wären ganz andere Ereignisse eingetreten, es wäre kein Bürgerkrieg, kein auswärtiger Krieg geführt worden, der 2. September wäre spurlos vorübergegangen, die Schreckenszeit wäre nicht eingetreten, man würde weder von Bonaparte noch von Napoleon, weder von Austerlitz noch von Waterloo gehört haben, die Insel Elba würde in der Weltgeschichte so wenig eine Rolle gespielt haben wie die Insel St. Helena.

      Als ich daher gestern über den kleinen Marktplatz von Varennes ging, dachte ich, die Erzählung meiner Reise müsse eine treffliche Einleitung zu meinem Romane seyn; denn in allen Stadien, wo ich verweilte, konnte ich die begangenen Fehler nach authentischen Schriftstücken berichtigen und überall fand ich noch Greise, welche Augenzeugen jener vor fünfundfünfzig Jahren stattgefundenen Ereignisse gewesen waren. Die Jahrhunderte sind ja eine Kette von Greisen, welche sich die Hände reichen.

      Endlich gelang es mir, nach vieler Mühe einen Grundriß des Städtchens, wie es damals war, mir zu verschaffen. Diese Nachforschungen haben mich daher in den Stand gesetzt, jene große Katastrophe nach glaubwürdigen, unleugbaren Quellen zu erzählen.

Alex. Dumas.

      I

      Am 21. Juli 1856 kam ich mit meinem Freunde Paul Bocage in Châlons um ein Uhr Nachts an. Mitten unter den Namen von Gasthöfen, welche bei der Ankunft im Bahnhofe in unsere Ohren geschrien wurden, bemerkte ich den Namen »Haute Mère–Dieu.« Der Gasthof schien mir alt genug zu seyn, um auf eine gewisse Berühmtheit Anspruch machen zu können. Ich ließ mir den Omnibus zeigen, der uns dahin führen sollte; wir setzten uns ein und fünf Minuten nachher wurden wir auf dem holprigen Pflaster der Hauptstadt des Marnedepartements wie auf marmornen Eiern gerüttelt.

      Der Gasthof war in der Nacht dasselbe, was alle Gasthöfe sind: eine Art Argus, von dessen hundert Augen nur eines offen ist. Dieses eine Auge war von einer Lampe erleuchtet, und im Licht dieser Lampe schlummerte mit beiden Augen ein Kellner, der den Auftrag hatte zu wachen, um die Reisenden zu erwarten.

      Er führte uns wankend in ein großes Zimmer mit zwei Betten, zündete zwei Kerzen an, welche er, um den Nord- und Südpol zu bezeichnen, an die beiden Enden des Zimmers stellte. Dann fragte er mit kläglicher Stimme und in der Erwartung einer verneinenden Antwort: »Die Herren befehlen wohl nichts mehr?« und als wir seiner Erwartung entsprachen, entfernte er sich in aller Eile, um noch vier Stunden zu schlafen.

      Wir wünschten ihm vom Herzen gute Nacht. Bocage, welcher auf der ganzen Reise auf Nachrichten von Spanien erpicht war, nahm eine alte Zeitung, welche er auf dem Tische des Vorzimmers gefunden hatte, und ich nahm eine Landkarte, die ich mitgebracht hatte.

      Mein Freund schien in seine Lectüre so vertieft, daß ich es nicht mit ihm aufnehmen zu können hoffte; ich löschte in der Stille mein Licht aus, und unser Zimmer blieb nur von einem einzigen Stern erleuchtet.

      Wann auch dieser Stern erlosch, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß mir Paul bei meinem Erwachen die wichtige Nachricht mittheilte, Spanien erfreue sich der größten Ruhe und der Malakoffthurm sey genommen. Die ausführliche Beschreibung dieser Erstürmung hatte vor vier Stunden seine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt.

      Kaum waren wir aufgestanden, so erhielten wir den Besuch unseres Wirthes. Er hatte, ich weiß nicht wie, die Identität meines Ich entdeckt, und in der Voraussetzung, daß man nach Châlons nur in der Absicht, Champagnerstudien zu machen, kommen könne, stellte er sich zu unserer Verfügung, um uns die berühmten Keller Jackson’s zu zeigen.

      Ich dankte ihm für seine Gefälligkeit; wenn uns die Zeit nicht zu kurz würde, wollten wir zum Besuch der interessanten Katakomben seine gütige Vermittlung in Anspruch nehmen, für den Augenblick aber sey unser Sinn nicht auf Weinstudien, sondern auf historische Forschungen gerichtet.

      Um ihm einen Beweis davon zu geben, fragte ich ihn, aus welcher Zeit sein Gasthof stamme. Das Gebäude war uralt, wie ich vermuthet hatte. Der erste überzeugende Beweis, den es von seinem Bestehen in der Geschichte gab, war ein Pachtvertrag, welchen unser Wirth holte. Aus diesem alten Schriftstück ergab sich, daß Franceis de Vassy, Abt von Notre-Dame de Haute-Fontaine im Bisthum Châlons, seinen Gasthof zur »Haute Mère-Dieu« an Jean Papillon und dessen Ehefrau Antoinette für die Summe von dreißig Livres Tournois vermiethete. Der Vertrag war vom 19. Juni 1501 datirt.

      Während unser Wirth uns diese Mittheilungen machte, war sein Blick auf den Platz vor unserem Fenster gerichtet, und er beeilte sich auffallend mit seiner archäologischen Erzählung, vermuthlich um eine andere, die er für interessanter hielt, zu beginnen.

      Wir fragten ihn, was seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehme. Ich sah auf dem ganzen Marktplatze nichts als ein zerlumptes altes Weib, welches mit einem abgenutzten Besen Pferdemist in einen alten Austernkorb kehrte.

      Eben diese Alte war der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit, und auf diesen keineswegs anziehenden Gegenstand wünschte er auch unsere Aufmerksamkeit zu lenken.

      Die Alte war die Witwe eines Mannes, Namens Ivonet, des Glücklichen, welcher einst in der Lotterie die Goldbarre gewonnen hatte, sie wurde daher gemeiniglich die »Mutter Lingot« genannt.

      Wie kam es nun, daß sich das Gold in unedles Blei