Capitän.
Tom gab durch einen Wink zu verstehen, daß er seine Anrede wieder anfangen wolle; aber Anna kam ihm zuvor.
»Er hat gesagt,« setzte sie hinzu, »daß es gefährlich für Sie sei, in dieser naßkalten Luft zu bleiben, daß Sie sich ins Schloß begeben müssen.«
»Wollen Sie mir Ihren Arm geben und mich führen?« fragte Sir Edward.
»O ja,« antwortete Anna lächelnd, »wenn Sie mir die Ehre erweisen, meinen Arm anzunehmen.«
Der Capitän nahm ihren Arm und ging zum größten Erstaunen Tom’s auf das Schloß zu.
Unten an der Freitreppe stand Anna Mary still, sprach noch einmal ihren Dank aus, verneigte sich höflich und entfernte sich in Begleitung der armen Familie.
Sir Edward blieb wie festgebannt auf der Stelle, wo sie ihn verlassen hatte, und schaute ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann ließ er sich seufzend und folgsam wie ein Kind in sein Zimmer führen.
Abends kamen der Doktor und der Pfarrer zum Whist, und der Capitän hatte mit ziemlicher Aufmerksamkeit zu spielen angefangen, als der Arzt, während Sanders Karten gab, plötzlich sagte:
»Wie ich höre, haben Sie heute Anna Mary gesehen?«
»Sie kennen sie?« fragte Sir Edward.
»Allerdings,« antwortete der Doctor, sie ist ja mein College.«
»Ihr College?«
»Ja wohl, und sie macht mir eine sehr gefährliche Concurrenz: sie heilt mehr Kranke mit ihren sanften Worten und Hausmitteln, als ich mit meiner Wissenschaft. Nehmen Sie sie nur nicht als Hausarzt, Commandant, sie wäre im Stande Sie zu curiren.«
»Und mir,« sagte der Pfarrer, »mir führt sie durch ihr Beispiel mehr Seelen zu, als ich durch meine Predigten bekehre. Wenn sie sich’s angelegen sein ließe, würde sie den verstocktesten Sünder ins Paradies führen.«
Von diesem Augenblicke an war nur noch von Anna Mary die Rede, die Karten blieben Nebensache, der Capitän hörte nicht nur aufmerksam zu, sondern nahm auch an dem Gespräch lebhaften Antheil, kurz, es war eine merkliche Besserung eingetreten. Seine trübe, gedrückte Stimmung schwand so lange, als von Mary die Rede war.
Sobald aber Herr Robinson die in der Morgenzeitung gelesenen wichtigen Nachrichten aus Frankreich mittheilte, stand Sir Edward auf und zog sich in sein Zimmer zurück Sanders und der Doctor sannen dann wohl noch eine Stunde auf Mittel, der französischen Revolution Einhalt zu thun; aber ihre gelehrten und wohlgemeinten Theorien blieben eben nur Theorien, die nicht den Weg über den Aermelcanal fanden.
Die Nacht war gut: der Capitän erwachte in ziemlich heiterer Stimmung; aber er war zerstreut und sah sich bei jedem Geräusch um, als ob er Jemand erwartete.
Endlich, als der Thee genommen wurde, meldete der Kammerdiener Miß Anna Mary. Sie wollte sich nach dem Befinden des Gutsherrn erkundigen und von der Verwendung seiner Gabe Rechnung ablegen.
Aus der Aufnahme, welche Miß Anna bei Sir Edward fand, zog Tom den Schluß, daß sie erwartet worden war. Die gestrige Fügsamkeit fand in der ehrerbietigen Begrüßung, mit der die junge Miß empfangen wurde, eine genügende Erklärung.
Nachdem sich Anna Mary nach dem Befinden des Capitäns erkundigt und dieser versichert hatte, daß er sich seit zwei Tagen merklich besser befinde, brachte sie die Angelegenheit der armen Witwe zur Sprache.
Die Börse, welche ihr Sir Edward gegeben, hatte dreißig Guineen enthalten; zehn Guineen hatte Anna zur Zahlung des rückständigen Miethzinses, fünf zum Ankauf der nothwendigsten Lebensbedürfnisse, zwei als Lehrgeld für den ältesten Sohn bei einem Tischler und zwei als Schulgeld für die Tochter verwendet. Das jüngste Kind, ein Knabe, mußte noch bei der Mutter bleiben.
Es blieben der armen Frau also noch elf Guineen, mit denen sie allerdings einige Zeit leben konnte, aber was sollte sie später anfangen, wenn es ihr nicht gelang einen Dienstplatz zu bekommen?
Einen solchen Dienstplatz hatte Sir Edward gerade zu besetzen: George’s Frau brauchte eine Gehilfin. Er erbot sich, Mistreß Denison zu sich zu nehmen und es ward verabredet, daß sie morgen mit dem kleinen Jack ins Schloß kommen sollte.
Anna Mary blieb beinahe zwei Stunden, welche dem Capitän wie eine Minute vergingen. Endlich stand sie auf und empfahl sich, ohne daß er es wagte sie zurückzuhalten, obgleich er Alles in der Welt gegeben haben würde, die schöne Miß noch länger bei sich zu sehen.
Draußen fand sie Tom, der sie erwartete. Der brave Matrose hatte Wunderdinge von ihren Curen gehört, und er zweifelte nicht, daß sie den Commandanten, dessen Zustand er noch vor drei Tagen als hoffnungslos betrachtet, wieder gesund machen werde.
Anna Mary selbst fand die Krankheit Sir Edwards bedenklich. Der Doctor und der Pfarrer hatten ihr nicht verhehlt, welchen seltsamen Einfluß ihr Besuch auf den Kranken gehabt und wie aufmerksam er zugehört, wenn von ihr die Rede gewesen war.
Sie hatte sich gar nicht darüber gewundert ; sie hatte ja, wie der Doctor erzählte, mehr als einmal durch ihre Gegenwart geheilt; sie sah ein, welchen Einfluß das Erscheinen eines weiblichen Wesens auf den gemüthskranken Commandanten haben müsse; sie war zwei Stunden bei ihm geblieben und hatte sich überzeugt, wie wohlthuend das Gespräch auf den Kranken gewirkt hatte. Sie versprach daher morgen wieder zu kommen und ihr Heilmittel selbst zu bringen.
Der Capitän erzählte Jedermann, daß Miß Anna ihn besucht habe. Sobald er erfuhr, daß Mistreß Denison eingezogen sei, ließ er sie herauskommen, unter dem Vorwande, ihr einige Verhaltungsbefehle zu geben, im Grunde aber, um Gelegenheit zu haben von Anna Mary zu sprechen. Mißtreß Denison, welche von der Natur mit großer Zungenfertigkeit begabt war, gab überdies ihrem Dankgefühl den lebhaftesten Ausdruck; sie war unerschöpflich in dem Lobe der »Heiligen«, wie man Anna Mary im Dorfe nannte. Dieses Gespräch wurde endlich durch die Tischglocke unterbrochen. Als sich Sir Edward in den Speisesaal begab, fand er den Doctor.
Die von diesem erwartete Wirkung zeigte sich ganz deutlich. Sir Edward’s Gesicht war heiterer geworden. Der Doctor, der ihn auf so gutem Wege sah, gab ihm den Rath, anspannen zu lassen und nach Tisch mit ihm auszufahren.
Er hatte in dem Dorfe, wo Miß Anna wohnte, einige Kranke zu besuchen und wenn der Capitän diesen Weg zu nehmen beliebe, so würde er ihn mit Vergnügen begleiten, da sein Pony sehr krank sei.
Sir Edward machte anfangs ein finsteres Gesicht; aber sobald er hörte, daß das Dorf, in welchem Miß Anna wohnte, das Ziel der vorgeschlagenen Spazierfahrt sein sollte, ließ er dem Kutscher den Befehl geben, sich bereit zu halten, und von nun an trieb er den Doktor zur Eile, so daß dieser, der gern in Ruhe speiste, sich vornahm solche Vorschläge künftig nur beim Dessert zu machen.
Das Schloß war vier Miles vom Dorfe entfernt; die Pferde legten den Weg in zwanzig Minuten zurück, und gleichwohl ging’s dem Capitän nicht schnell genug.
Endlich hielt der Wagen vor einem Hause, in welchem der Doktor zu thun hatte; es war zufällig dem Hause der Miß Anna gegenüber. Der Doctor sagte es dem Capitän, als er ausstieg.
Es war ein hübsches englisches Häuschen, welches sich mit seinen grünen Fensterläden und rothen Ziegeln gastfreundlich und sauber ausnahm. Während der Doktor bei seinem Kranken war, behielt Sir Edward die Hausthür im Auge: er hoffte Miß Anna herauskommen zu sehen. Aber er sah sich in seiner Erwartung getäuscht, und der Doktor fand ihn in tiefen Gedanken.
Der Jünger Aeskulaps stieg nicht ein; er machte dem Commandanten mit der unbefangensten Miene von der Welt den Vorschlag, der schönen Miß den Besuch zu erwiedern. Sir Edward nahm es sehr bereitwillig an und Beide gingen auf die Hausthür zu. Der Capitän gestand nachher, daß ihm bei diesem Gange über die Straße das Herz stärker geschlagen habe, als bei dem ersten Seegefecht, das er mitgemacht.
Der Doctor klopfte an die Thür und eine alte Gouvernante, welche die Eltern der Miß Anna mit aus Frankreich gebracht hatten, empfing die Fremden. Anna Mary war nicht zu Hause; man hatte sie zu einem an den Blattern erkrankten Kinde gerufen. Aber der Doctor ging trotzdem hinein, um dem Commandanten das Innere des Häuschens zu zeigen.
Es war kaum möglich etwas Anmuthigeres