eine so tiefe Stufe des Mangels und des Elends herabgesunken, daß selbst Amy, diese erste und hartnäckige Ursache meines Ruins, mich verlassen hatte?
Nur das Verhängnis, welches mich von der Stufenleiter der Menschheit herabstürzen wollte, um mich sämtliche Sprossen derselben von neuem erklettern zu lassen, könnte dies sagen.
Jeder einzelne Umstand jenes furchtbaren Tages ist meiner Erinnerung gegenwärtig.
Es war Freitags am 26. Oktober 1782, elf Uhr vormittags, an einem jener kalten, nebeligen Tage, wie es deren nur in London gibt, als ich das kleine Haus in Piccadilly verließ.
Mein Frühstück hatte in einem Stück Brot und einem Glas Wasser bestanden und ich wußte nicht gewiß, ob ich wieder ein Stück Brot zu meinem Mittagsmahle haben würde.
Ich ging Piccadilly hinauf bis Old Bondstreet, ohne zu wissen, wohin ich ging, ohne mir ein Ziel gesteckt zu haben. Ich ging immer geradeaus wie ein Blinder, indem ich an die mir Begegnenden anstieß und gegen andere Hindernisse anrannte.
Es dauerte nicht lange, so sah ich mich in Oxford Street. Nur der Zufall hatte mich hierhergeführt.
Hier orientierte ich mich. Ich befand mich Miß Arabellas Hotel beinahe gegenüber.
Ich blieb einen Augenblick stehen. Während dieses Augenblickes kam ein Wagen aus dem Hofe heraus und fuhr bis an den Fuß des Perrons.
Eine in eine kostbare, mit Spitzen besetzte Atlasmantille gehüllte Dame stieg in Begleitung eines eleganten Kavaliers ein. Der Wagen schloß sich wieder und fuhr, mich mit Kot bespritzend, vorüber.
Diese Dame war Miß Arabella. Was den Kavalier betraf, der wahrscheinlich ein neuer Bewunderer war, so kannte ich denselben nicht.
Der Wagen verschwand in Highstreet.
Warum blieb diese Person, die wahrscheinlich auch nicht von besserer Herkunft war als ich, die sicherlich nicht schöner war als ich, reich und glücklich, während ich, nachdem ich ebenso reich und ebenso glücklich gewesen wie sie, jetzt arm, und elend sie an mir vorüberfahren und mich mit Kot bespritzen sah?
Dies schien mir eine unerklärliche Grausamkeit des Schicksals zu sein.
Vielleicht eine halbe Stunde blieb ich unbeweglich an derselben Stelle stehen und wäre ohne Zweifel noch länger stehen geblieben, ohne zu wissen, warum ich nicht weiterging, wenn sich nicht allmählich eine Menschenmenge um mich gesammelt und ein Polizeier, sich hindurchdrängend, mich gefragt hatte, was ich gleich einer Bildsäule stumm und mit den Füßen im Kote stehen bliebe?
Ich antwortete, ich hätte eine Dame von meiner Bekanntschaft in ihrem Wagen aus dem Hause Nr. 23 herauskommen gesehen und erwartete nun ihre Rückkunft, um mit ihr zu sprechen.
»Geht nur Eures Weges weiter,« sagte der Polizeier in rauhem Tone zu mir; »zu dieser Stunde des Tages haben Frauenzimmer Eurer Art nicht das Recht, auf den Trottoirs stehen zu bleiben.«
Diese Worte drangen mir ins Herz wie ein glühendes Eisen. Ich raffte mich auf und ging durch Deanstreet nach dem Strand hinunter.
Kaum hatte ich einige Schritte zurückgelegt, so sah ich mich Mr. Plowdens Kaufladen gegenüber, in welchem ich, wie man sich erinnert, einen Monat als Ladenmamsell fungiert. Das Leben war hier für mich weder glücklich noch glänzend, wenigstens aber ruhig gewesen.
An der Stelle, wo ich während jenes Monats gesessen, sah jetzt ein anderes junges Mädchen von meinem Alter. An ihren sanften, zufriedenen Zügen sah man mit leichter Mühe, daß sie dadurch, daß sie Mr. Plowdens Ladenmamsell geworden, das Ziel ihrer Wünsche und ihres Ehrgeizes völlig oder doch beinahe erreicht hatte.
Die rauhen Worte des Polizeiers waren mir noch zu frisch in der Erinnerung, als daß ich vor Mr. Plowdens Laden ebenso stehengeblieben wäre, wie ich vor Miß Arabellas Hotel stehen geblieben war.
Ich ging den Strand hinauf bis King Williamstreet und dann diese entlang nach Leicester Square.
Gerade, als ob ich Stufe um Stufe die Leiter meiner Erinnerungen hinaufsteigen sollte, fand ich hier jenes kleine Haus Mr. Hawardens wieder, wo ich bei meiner ersten Ankunft in London so wohlwollende und gastfreie Aufnahme gefunden.
Vom Strand an war ich im Regen gegangen, welcher jetzt immer heftiger zu fallen begann. Meine Abgestumpftheit hatte jedoch einen solchen Grad erreicht, daß ich nicht bemerkte, wie ich bis auf die Haut durchnäßt war. Das kleine Haus hatte immer noch seinen soliden puritanischen Anstrich. Ich setzte mich auf die Stufen einer Art ambulanten Theaters, welches auf der Mitte des Platzes aufgeschlagen war.
Vor mir hatte ich die Tür von Mr. Hawardens Haus. Über zwei Stunden blieb ich so im Regen sitzen und fühlte, wie sich allmählich in mir der Hunger zu regen begann.
Dennoch war ich zu stolz, um in diesem gastlichen Haus ein Stück Brod zu erbetteln.
Unglücklicherweise waren zwei der Hilfsquellen, auf welche ich in der bedrängten Lage, in der ich mich befand, hätte rechnen können, mir gegenwärtig verschlossen. Mr. Sheridan, dessen Namen ich so oft genannt, war durch den Brand des Drury-Lane-Theaters, dessen Direktor er war, und wo ich ein Unterkommen hätte finden können, in die Unmöglichkeit versetzt, mir nützlich zu sein.
Was Romney betraf, so hatte dieser mir niemals seine Adresse gegeben. Ich glaubte mich bloß zu entsinnen, daß er in der Nähe von Cavendish-Square oder in Cavendish-Square selbst wohnte.
Diese Erinnerung war jedoch zu unbestimmt, als daß ich auf dieselbe hin sein Haus aufzusuchen vermocht hätte.
Ich bedurfte aber rascher und wirksamer Hilfe. Ich hatte Hunger, ich wußte nicht, wo ich etwas zu essen hernehmen, die Nacht brach ein und ich wußte nicht, wo ich ein Nachtlager finden sollte.
Ich hob die Augen gen Himmel, um den Zorn desselben durch einen flehenden Blick zu entwaffnen zu suchen.
In diesem Augenblick fuhr ein Wagen wenige Schritte von der Stelle entfernt vorüber, wo ich saß.
Er machte Halt, der Schlag öffnete sich.
Eine Frau von vierzig bis fünfundvierzig Jahren in einem prachtvollen indischen Kaschemirshawl stieg aus und kam, trotz des auf mich und auf sie herabrieselnden Regens auf mich zu.
In den Zügen dieser Frau lag ein Gemisch von Zynismus und Gemeinheit, welches mit ihrer eleganten Toilette in offenem Widerspruch stand.
Da ich nicht glauben konnte, daß sie mit mir sprechen wollte, so ließ ich meine Stirn wieder auf meine beiden Hände herabsinken.
Sie berührte mich an der Schulter.
Ich richtete den Kopf wieder empor.
Die Frau stand vor mir. Sie heftete einen frechen Blick auf mich und murmelte ziemlich laut:
»Meiner Treu, sie ist hübsch; sie ist sehr hübsch!«
Erstaunt sah ich sie an.
Was wollte diese Frau von mir?
»Warum bleiben Sie hier im Regen sitzen?« fragte sie mich.
»Weil ich nicht weiß, wo ich hin soll,« antwortete ich.
»Na,« sagte sie, »wenn man ein so hübsches Gesicht hat, wie Sie, so kommt man nicht so leicht in Verlegenheit, ein Nachtlager zu finden.«
»Aber dennoch befinde ich mich in dieser Verlegenheit, wie Sie sehen.«
»Warum sind Sie so bleich?«
»Weil mich friert und hungert.«
»Sie sind doch nicht krank?«
»Nein, aber ich werde es wohl werden, wenn ich die Nacht auf der Straße zubringen muß.«
»Wer zwingt Sie denn, die Nacht auf der Straße zuzubringen?«
»Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß ich nicht weiß, wo ich hin soll?«
»Kommen Sie mit mir.«
Ich sah sie wieder an.
»Wer sind Sie?« fragte ich sie.
»Ich bin jemand, der Ihnen bietet, was Sie nicht haben, – Nahrung, Wohnung, Kleider, Geld.«
»Und was verlangen