der Angekommenen das Jaquet abzunehmen, und Henriette verließ mit einer tiefen Fiebergluth auf den eingefallenen Wangen den Wintergarten, um ihre Taube fortzutragen.
„Wollen Sie nicht zum Thee bleiben, Herr Doctor?“ fragte die Präsidentin den Arzt, der sich abschiednehmend vor ihr verbeugte. Er entschuldigte sich mit einigen Krankenbesuchen, die er noch zu machen habe – Gründe, bei welchen es sarkastisch um Flora’s Lippen zuckte, aber das schien er nicht zu bemerken; er reichte ihr die Hand, ebenso dem Commerzienrathe, vor Käthe aber neigte er sich ritterlich ehrerbietig, durchaus nicht wie vor einer jungen, neuen Schwägerin; für ihn war und blieb sie vorderhand das Mädchen aus der Fremde, und die Anderen schienen diese Auffassung ganz in der Ordnung zu finden … Mit ihm zugleich verließ Henriette das Zimmer.
„Hör’ mal, Flora, für künftig verbitte ich mir dergleichen unerquickliche Scenen, wie wir sie eben mitansehen mußten,“ sagte die Präsidentin stirnrunzelnd mit sehr verschärfter Stimme, nachdem sich die Thür hinter den Hinausgehenden geschlossen hatte. „Du hast Dir die vollkommene Freiheit gewahrt, auf Dein Ziel loszusteuern, wie es Dir paßt und gefällt – gut – von meiner Seite ist Dir bisher nicht das Geringste in den Weg gelegt worden, aber ich protestire energisch, sobald Du Lust zeigst, die widerwärtige Sache vor meinen Augen auszufechten. Wie gesagt, ich verbitte mir das ernstlich! Soll ich Dir wiederholen –“
„Liebe Großmama,“ unterbrach sie die junge Dame persiflirend und verächtlich, „wiederhole nicht! … Du willst doch nur sagen: ‚In diesem Hause kann gemordet werden; es kann brennen – gleichviel, wenn nur die Frau Präsidentin Urach leuchtend wie ein Phönix aus der Asche hervorgeht‘ …. Pardon, Großmama! Ich will es in meinem ganzen Leben nicht wieder thun. Das Haus ist ja groß genug; man kann auch außer Deinem Gesichtskreise auf die Mensur gehen. Ach, wenn es mir nur nicht so entsetzlich schwer gemacht würde! Ich fürchte, eines schönen Tages verliere ich doch die Geduld –“
„Flora!“ rief der Commerzienrath mit einer Art von bittender Mahnung.
„Schon gut, mein Herr von Römer! Ich habe selbstverständlich jetzt auch Rücksicht auf Deine neue Standeswürde zu nehmen. Gott, was Alles lastet auf meinen armen Schultern! Und womit verdiene ich die Heimsuchung, daß sich die Herzen wie die Kletten an mich hängen?“
Sie griff nach ihrem Hute und nahm die Sammetschleppe auf, um zu gehen – vor Käthe hielt sie den Schritt an.
„Siehst Du, mein lieber Schatz,“ sagte sie und legte der jungen Schwester den Zeigefinger unter das Kinn, „so geht es dem armen Frauenzimmer, wenn es sich für einen kurzen Moment mit der Sentimentalität einläßt und zu lieben sich einbildet. Es hat plötzlich den Fuß im Tellereisen und sieht wehklagend ein, daß die abgedroschene gute Lehre: ‚Drum prüfe, wer sich ewig bindet!‘ eine abscheuliche neue Wahrheit enthält – denke an Deine Schwester und nimm Dich in Acht, Kind!“
[79] Damit ging sie hinaus, und Käthe sah ihr mit großoffenen Augen nach. Was für eine seltsame, unbräutliche Braut war doch die schöne Schwester! –
6
Nahe der westlichen Grenze des Parkes lagen die Ueberreste des ehemaligen alten Herrenhauses Baumgarten. Von dem ganzen einst wohlbefestigten und mit Wassergräben umgebenen Ritterschlosse stand nur noch ein Zimmerthurm von bedeutenden Dimensionen, an den sich der geschwärzte Mauerrest eines Seitenflügels festklammerte. Vor sechszig Jahren war der Bau niedergerissen worden. Der damalige Besitzer, meist im Auslande lebend, hatte das Herrenhaus im modernen Styl, als Villa Baumgarten, an das entgegengesetzte Ende des Grundstückes, an die Promenade, verlegt, um bei seinem zeitweiligen Aufenthalt in der Heimath „unter Menschen zu sein“, und die schönbehauenen Granitblöcke des alten Schlosses beim Neubau verwenden lassen. Den Thurm mit seinem Ruinenanhängsel hatte man als Schmuck der Parkanlagen respectirt. Er erhob sich auf einem grünberasten künstlichen Hügel; um seine Basis drängte sich verwildertes Buschwerk; auf dem anstoßenden Mauerstück mit seinem mächtigen Fensterbogen hatten sich Stachelbeersträucher und Heckenrosen eingenistet, und der wilde Hopfen kletterte ihnen nach und streute grüne Ornamente über das dunkle Gestein.
Diese Ruine inmitten eines Wasserringes hatte jedenfalls ihren Zweck als Decoration erfüllt, aber nach dem damaligen Besitzer war eine praktische nutzenheischende Generation gekommen – sie hatte das Wasser aus dem Graben abgeleitet und in den vortrefflichen Schlammboden Gemüse gepflanzt. Das war nach dem Ausspruche des Schloßmüllers das einzige Vernünftige gewesen, das er bei seinem Ankauf im Parke vorgefunden, und als solches hatte er auch das einträgliche Stückchen Boden sofort zur eigenen Benutzung reclamirt. Käthe war als Kind sehr gern in dem kleinen Thale, wie sie den Graben nannte, umhergewandert. Das himmelschreiende Attentat auf die Romantik und den historischen Nimbus des ehemaligen Wasserschlosses war ihr selbstverständlich damals nicht zum Bewußtsein gekommen; sie war mit Suse stundenlang pflückend durch die Wildniß der Stangenbohnen und jungen Erbsen geschlüpft, ahnungslos, daß bei einem plötzlichen Durchbruche vom Flusse her die Fluthen hereinströmen und sie und Suse und die ganze grüne Herrlichkeit verschlingen könnten.
Heute nun, am fünften Tage nach ihrer Ankunft, betrat sie zum ersten Mal wieder diese entlegene Parkpartie und stand wie geblendet. Noch hingen die Hopfenranken blätterlos wie ein fahles Netz um die Mauern, und der Hügelrasen, winterdürr und zerwühlt, zeigte noch keine grüne Halmspitze, aber die Aprilsonne lag breit und glänzend auf dem ruinengekrönten Hügel und hob ihn malerisch von dem Tannenwalde, der im Hintergrunde sich über eine lange Bergwand hindehnte. Nicht eine Spur von frischem Mörtel zeigte die aufbessernde Menschenhand an den Mauern; kein neuer Stein war eingefügt worden, aber es schien auch keiner zu fehlen; nur die mächtigen Fensterhöhlen des Thurmes, vor denen früher vermorschte Holzläden gelegen, gähnten weit offen, und es glitzerte so seltsam aus dem Steinrahmen, als webe ein abgesperrter Sonnenstrahl drin im tiefen Dunkel ein geheimnißvolles Goldgespinnst. Und neues liebliches Leben regte sich um den verfallenen Stammsitz Derer von Baumgarten; über der Mauerkrone des Thurmes kreisten in graziösem Fluge weiße und bunte Tauben, und aus dem Dickicht, unter der uralten Nußbaumgruppe hervor, die den Thurm nach Süden hin flankirte, kamen lautlos zwei Rehe und wandelten langsam über den Rasenhang. Das kleine Thal aber war verschwunden. Ein breiter funkelnder Wassergürtel umfluthete wieder, wie vor Zeiten, den Hügel, Alles, was drunten gegrünt und geblüht und emporgestrebt, nivellirend, als habe die regsame Menschenkraft nie seinen stillen Grund usurpirt gehabt.
Eine Brücke, in Ketten hängend, schwang sich über den Graben, und drüben, vor ihren schmalen Ausgang quer hingestreckt, lag eine riesige Bulldogge; den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, beobachtete sie mit wachsamem Auge das jenseitige Ufer.
„Da siehst Du nun Moritzens Tusculum, Käthe,“ sagte Henriette, die an Käthe’s Arm hing. Einst Burgverließ mit den üblichen Marterwerkzeugen und Todesseufzern, vor noch vier Monaten unbestrittener Wohnsitz verschiedener Eulen und Fledermäuse und meiner Tauben, und jetzt Salon, Schlafgemach und sogar Schatzkammer des Herrn Commerzienrath von Römer. … Gelt, schwarz genug sieht das Ding noch aus, und man meint, der nächste Sturmwind müsse das Mauerstück über den Haufen blasen, aber das Alles ist niet- und nagelfest, und gerade dort unter den überhängenden Steinen haust Moritzens Diener – der Mensch wohnt beneidenswerth.“
Flora war auch mitgekommen. „Wem’s gefällt!“ sagte sie trocken und achselzuckend. „Uebrigens eine merkwürdig originelle Idee für einen Krämerkopf – meinst Du nicht, Käthe?“ Sie schritt an den Schwestern vorbei über die Brücke. Ein Stoß ihres schönen Fußes scheuchte den Hund aus dem Wege, dann stieg sie den Rasenhang hinauf. Schüchtern flohen die Rehe vor der seidenrauschenden Erscheinung; die Tauben flatterten geängstigt von den unteren Fenstersimsen, und der Hund knurrte widerwillig und ging der herrischen Dame um einige Schritte langsam nach. … Wie sie droben stand, die schlanken Hände auf das Schloß der eisenbeschlagenen Thurmpforte gelegt und den Kopf mit dem metallisch funkelnden Blondhaar über die Schulter zurückwendend, im hellgrauen, silberflüssig schimmernden Seidenkleid mit Puffärmeln und seitwärts aufgenommener Schleppe, da war sie das leibhaftige Sagenbild der schönen Kaisertochter im Kyffhäuser.
Unwillkürlich glitt Käthe’s Blick von ihr weg auf Henriette, die sich dicht an ihre Seite schmiegte, und das Herz that ihr weh. Die hinfällige Gestalt mit ihren eckigen