Henri Barbusse

Das Frühlicht


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Hause mitnehmen. Es ist ein Sergeant vom 4051en, von der Klasse 14. Ein netter kleiner Kerl.

      Dann zeigte er ihn uns; er lüftete das Taschentuch, das ihm das Gesicht verdeckte; er ist blutjung und schien zu schlafen; nur dass der Augapfel verdreht war, die Wange wachsfarbig, und ein rötliches Wasser nässte ihm Nasenlöcher, Mund und Augen,

      Dieser Leib, der wie ein reiner Ton in jener Leichengegend liegt und noch gelenkig beim Tragen den Kopf auf die Seite neigt, als mache er sich's bequem, erweckt die kindliche Illusion, er sei weniger tot, als die andern. Er ist auch weniger entstellt und hat etwas Pathetischeres, Mitteilsameres, und merkt auf, wenn man ihn anschaut. Und wenn wir überhaupt angesichts dieser Anhäufung erloschner Wesen ein Wort herausbrächten, so wär's: »Der arme Junge!«

      Dann gingen wir auf die Strasse zurück; von hier ab führte sie hinunter nach Souchez. Und auf der bleichen Nebelstrasse war es wie in einem schrecklichen Jammertal. Ein stets wachsendes Durcheinander von Schutt, Ueberresten und Auswurf häuft sich an auf dem zerschundenen Rückgrat des Pflasters bis an die kotigen Strassenränder. Die Bäume liegen auf dem Boden oder sind verschwunden und ausgerissen, wie zerfleischte Stummel. Die Geschosse haben die Böschungen über den Haufen geworfen und zerfetzt. Längs der Strasse auf beiden Seiten, oder auch vereinzelt, stehn nur noch die Kreuze auf den Gräbern aufrecht; sonst sieht man nur zwanzigmal verschüttete und wieder ausgegrabene Gräber. Löcher mit Uebergängen oder Flechtwerk über sumpfigen Stellen.

      Je weiter wir kommen, desto schrecklicher, zerwühlter, verfaulter und sündflutlicher erscheint alles. Man schreitet auf einem Pflaster von Granatsplittern. Auf Schritt und Tritt stösst der Fuss daran und verfängt sich alle Augenblicke in ihre Fallen. Man stolpert über einen Wust von zerbrochenen Waffen, Scherben von Kochgeschirren, Kannen, Oefen, Nähmaschinen und über elektrische Drahtknäuel, über deutsche und französische, zerrissene Ausrüstungen, die eine trockene Kotrinde bedeckt, über zweifelhafte Kleidungsstücke, an denen eine rotbraune Kittmasse klebt. Dazu muss man auf die Blindgänger aufpassen, die überall ihre Spitzen herausstecken, ihr Verschlusstück zeigen oder auch auf der Flanke liegen, rot, blau oder schwarzbraun angestrichen.

      – Das ist der alte deutsche Schützengraben, den sie endlich aufgegeben haben.

      Stellenweise ist er verstopft, dann wieder wütend durchschossen. Die Erdsäcke sind zerrissen, aufgeschlitzt, zertrümmert und wehn leer im Winde; die Stützbalken sind zerbrochen und strecken ihre Stümpfe nach allen Seiten. Die Unterstände sind bis obenan mit Erde und Gott weiss womit noch verstopft. Alles das sieht aus wie ein halb ausgetrocknetes, zertretenes, aufgerissenes und sumpfiges Flussbett, das vom Wasser und von den Menschen sich selbst überlassen ist. An einer Stelle hat die Beschiessung den Graben wörtlich weggewischt; der ausgehöhlte Graben ist hier nur noch ein Feld frischer Erde und symmetrisch der Länge und der Breite nach nebeneinander liegender Löcher.

      Ich mache Poterloo auf dieses aussergewöhnliche Feld aufmerksam, worüber ein Riesenpflug gegangen zu sein scheint.

      Aber ihn beschäftigt bis in sein tiefstes Innere die Aenderung, die die Landschaft erlitten hat.

* * *

      Plötzlich, als erwache er aus einem Traum, zeigt er verblüfft mit dem Finger nach einer Stelle in der Ebene.

      – Das Cabaret Rouge!

      Man sieht dort ein flaches Feld, mit zerbrochnen Backsteinen belegt.

      Und das? Was ist das?

      Ein Randstein? Nein, es ist kein Randstein. Es ist ein Kopf, ein schwarzer, gegerbter, gewichster Kopf. Der Mund sitzt ganz schief, und man sieht Schnurrbarthaare, die auf beiden Seiten nach oben starren: ein dicker, verkohlter Katzenkopf. Darunter sieht man einen Leichnam – es ist ein Deutscher –, der aufrecht in der Erde steckt.

      Und das?

      Eine grausige Zusammenstellung: ein ganz weisser Schädel, dann zwei Meter vom Schädel abseits ein Paar Stiefel und zwischen beiden ein Haufen zerfaserten Lederzeugs und in brauner Kotmasse erstarrte Lumpen.

      – Komm. Der Nebel hat nachgelassen. Beeilen wir uns.

      Hundert Meter vor uns, in den durchsichtigeren Nebelwellen, die vor uns herwehn und ihre Schleier mehr und mehr lüften, pfeift ein Geschoss und platzt . . . Es schlug gerade in die Stelle ein, an der wir im Augenblick vorübergehen werden.

      Dann geht's bergab. Die Senkung ebnet sich allmählich. Wir gehn nebeneinander her. Mein Begleiter spricht kein Wort, er schaut nach rechts und schaut nach links.

      Dann bleibt er wieder stehn, wie vorhin auf der oberen Strasse. Ich höre ihn halblaut stottern:

      Ja? Wir sind doch da . . . ja, ja, hier ist es.

      Wir haben in der Tat die Ebene nicht verlassen und stehn immer noch in jener öden, ausgebrannten

      Wüste, – und dennoch sind wir im Dorfe Souchez!

* * *

      Das Dorf steht nicht mehr. Nie hab ich ein derartig verschwundenes Dorf gesehen. Allain-Saint-Nazaire und Carency haben noch den äusseren Anschein einer Ortschaft gewahrt, mit ihren eingefallnen und abgebrochnen Häusern, ihren mit Kalk und Ziegeln verschütteten Höfen. Hier dagegen hat alles jegliche Form verloren; übrig blieb nur noch der Rahmen niedergerissener Bäume, der uns mitten im Nebel, mitten in einer Scheinumgebung umgibt. Nicht eine Wand, kein Gitter, kein Tor ist stehn geblieben; überrascht bemerkt man ein Pflaster im Durcheinander von Balken, Steinen und Eisen; hier also war eine Strasse!

      Alles das sieht aus wie verworrenes, schmutziges und sumpfiges Vorstadtgelände, auf das die Stadt jahrelang, ohne ein leeres Plätzchen zu schonen, ihren Schutt, ihre Abfälle, ihr morsches Baumaterial und ihr altes Geschirr regelmässig abgelagert hätte: es ist eine gleichmässige Schutt- und Abfallschicht, in der man einsinkt und langsam und mühevoll vorwärtskommt. Die Beschiessung hat die Dinge so sehr entstellt, dass sie den Lauf des Mühlenbaches abgelenkt hat; dieser bildet, dem Zufall anheimgelassen, auf dem übrigen Stück des kleinen Platzes, wo ein Kreuz stand, einen Teich.

      Hie und da ein paar Granatenlöcher, in denen verzerrte und aufgeblähte Pferde faulen; in anderen Löchern liegen die Ueberreste dessen, was ein menschliches Wesen war und durch die entsetzliche Wunde der Granate entstellt wurde.

      Quer über dem Pfad, der uns über diesen Zusammenbruch führt und über jene Schuttflut unter der tiefen Trübsal des Himmels, liegt ein Mann, als ob er schliefe; aber er liegt platt auf der Erde, woran man die Toten von den Schläfern unterscheidet. Es ist ein Suppenträger mit seinem Brotkranz, den ein Lederriemen zusammenhält, und die Kannen der Kameraden hängen ihm an einem Riemenbündel traubenförmig über die Schulter. Letzte Nacht hat ihm offenbar ein Granatsplitter den Rücken eingestossen und durchlöchert. Wir sind jedenfalls die ersten, die ihn entdecken, diesen verborgenen Soldaten, der im Verborgenen gefallen ist. Vielleicht ist er schon zersetzt, wenn andere hier vorbeikommen. Ich suche nach seiner Erkennungsmarke; sie klebt im geronnenen Blut, in welchem seine rechte Hand liegt. Ich schreibe den mit blutigen Buchstaben gezeichneten Namen ab.

      Poterloo lässt mich das allein besorgen. Er sieht aus wie ein Nachtwandler. Er schaut und schaut in einem fort wie wahnsinnig überall hin; er sucht und sucht in diesen zerfetzten, verwischten Dingen, in dieser Leere, er sucht und forscht den dunstigen Horizont aus.

      Dann setzt er sich auf einen guerliegenden Balken, nachdem er einen ausgerenkten Kochkessel mit dem Fuss heruntergeschlagen hat. Ich setze mich neben ihn. Ein Nebelregen rieselt leise. Die Feuchtigkeit des Nebels fliesst zu Tropfen zusammen und belegt die Dinge mit einem leichten Schimmer.

      Poterloo murmelt:

      – Herr Gott!

      Er wischt sich die Stirn e ab und blickt mich flehentlich an. Er möchte verstehn, die Zerstörung dieses Erdstrichs möchte er umarmen und diese Trauer zur seinen machen. Er stottert unzusammenhängendes Zeug und nimmt seinen grossen Helm vom Kopfe und man sieht, wie sein Schädel dampft. Dann sagt er mühevoll zu mir:

      – Kannst dir nicht vorstellen, du kannst es nicht, kannst es einfach nicht . . .

      Dann keucht er:

      – Das Cabaret Rouge, wo der deutsche Schädel liegt mit nichts als Abfall drum herum . . ., diese Kloake, das war früher . . . am Weg, ein Backsteinhaus mit