das Leben wogt und flutet in ihm wie ein Meer, Gedanken und Gefühle fließen in Wellen dahin, stoßen sich untereinander, enteilen irgendwohin und werfen Gischt und Schaum auf.
Er hört in diesen Tönen etwas ihm Bekanntes: wie eine Erinnerung lebt es darin, wie der Schatten einer Frau, die ihn einstmals auf dem Schoße hielt.
Er durchwühlt sein Gedächtnis und errät, daß es seine Mutter war, die ihn so hielt, während er, mit seiner Wange an ihre Brust gelehnt, zusah, wie ihre Finger über die Klaviertasten hinglitten, und aufmerksam lauschte, wie bald traurige, bald frische, kecke Weisen unter ihren Händen erklangen, und wie bald ihr Herz in der Brust klopfte.
Immer deutlicher tauchte die Frauengestalt in seiner Erinnerung auf, als sei sie eben im Augenblick aus dem Grabe erstanden und lebendig vor ihn getreten.
Er erinnerte sich, wie nach beendetem Spiel ihre ganze, zitternde Lust sich in dem heißen Kuß auslöste, den sie ihm aufdrückte. Er erinnerte sich, wie sie ihm die Bilder im Zimmer erklärte: wer jener Alte mit der Leier sei, auf dessen Spiel der stolze König da lauschte, stumm, ohne daß er sich zu regen wagte – wer die Frau sei, die dort zum Richtplatz geführt ward, und so weiter. Er erinnerte sich, wie sie ihn ans Ufer der Wolga führte, wie sie dort stundenlang saß und in die Ferne schaute, oder ihn auf die im Sonnenschein aufragenden Berge, auf die üppig grünenden Wälder und die vorüberfahrenden Schiffe aufmerksam machte.
Und er sah sie an, wie sie so unbeweglich dasaß und schaute, und er blickte in ihre durchsichtigen, tiefen, guten Augen – die ganz so waren wie die Augen Waßjukows, wenn er spielte.
Vielleicht sah auch sie in dem Grün der Wälder, dem raschen Lauf des Flusses, dem Blau des Himmels dasselbe, was Waßjukow sah, wenn er auf der Geige spielte . . . Berge, Meere, Wolken . . . »kurz alles, was auch ich sehe«, dachte er im stillen.
Hörte er irgendwo eine Dame auf dem Klavier spielen, etwa die Gouvernante auf dem Nachbargute, so blieb er wie angewurzelt stehen, vergaß selbst die Angel, die er eben unten am Flusse auswerfen wollte, und blieb, mit offenem Munde hinter der Spielenden stehend, im Zimmer. Es war, als sei er gar nicht da, als sei er in die Erde versunken – weit, weit hinweg trug’s ihn durch die Lüfte, und er wuchs ins Riesengroße, und Kräfte strömten ihm zu, daß er sich stark genug fühlte, gleich Simson an Säulen zu rütteln und Gewölbe zum Einsturz zu bringen.
Die Töne dringen in sein Hirn ein, erschüttern seine Brust, treiben ihm den Schweiß auf die Stirn und die Tränen in die Augen . . .
Verklingen die Töne, so erwacht er jäh, schämt sich und läuft davon.
Er begann zunächst bei Waßjukow das Geigenspiel zu erlernen – eine ganze Woche schon streicht er mit dem Bogen auf der Geige hin und her: »a, c, g«, intoniert Waßjukow geduldig, während die schrillen Mißtöne, die sein Schüler dem Instrument entlockt, ihm in die Ohren schneiden. Bald kriegt der Bogen zwei Töne auf einmal zu fassen, bald zittert die spielende Hand vor Schwäche: nein, das ist nichts! Wenn Waßjukow spielt, geht es wie geölt. Zwei Wochen sind bereits vergangen, und er vergißt immer noch bald diesen bald jenen Finger. Die Schüler murren: »Hol’ euch der Teufel mit eurem Gefiedel!« ruft der Primus. »Hier gibt’s ernste Arbeit genug, und sie sägen auf ihrer Geige herum!«
Raiski gab das Geigenspiel auf und bat den Vormund, ihn doch Klavierunterricht nehmen zu lassen. »Das ist nicht so schwierig,« dachte er, »das werde ich leichter erlernen.«
Der Vormund engagierte einen deutschen Klavierlehrer für ihn, nahm sich jedoch vor, einmal ernsthaft mit ihm zu reden.
»Höre einmal, Boris,« begann er, »ich wollte dich immer schon fragen, was du eigentlich einmal anfangen willst?« Raiski verstand die Frage nicht und schwieg.
»Du bist nun sechzehn Jahre alt,« fuhr der Vormund fort, »es ist wirklich hohe Zeit, daß du einmal ernstlich an deine Zukunft denkst. Du hast, wie ich sehe, noch gar nicht überlegt, was du auf der Universität und später im Staatsdienst anfangen sollst. Mit der Offizierslaufbahn wird es nichts werden: dein Vermögen ist nicht groß, und nach den Traditionen deiner Familie müßtest du schon bei der Garde dienen.«
Raiski schwieg und sah zum Fenster hinaus in den Hof, wo eben zwei Hähne aneinandergeraten waren, ein Schwein in dem Düngerhaufen wühlte und eine Katze sich still an eine Taube heranschlich.
»Ich spreche mit dir von ernsten Dingen,« sagte der Vormund, »und du guckst zum Fenster hinaus! Wofür bereitest du dich eigentlich vor?«
»Ich will ein Künstler werden.«
»Was?«
»Ein Künstler will ich werden,« wiederholte Raiski.
»Was Teufel ist dir in den Kopf gefahren? Wer wird dann noch mit dir verkehren wollen? Weißt du, was ein Künstler ist?« fragte der Vormund.
Raiski schwieg.
»Ein Künstler ist ein Mensch, der dich entweder anpumpt oder dir so viel Blödsinn vorschwatzt, daß dein Gehirn eine ganze Woche lang umnebelt bleibt . . . Ein Künstler will er werden! . . . Das heißt doch nichts anderes,« fuhr der Vormund fort, »als ein wüstes Zigeunerleben führen, an Geld, Garderobe und allen sonstigen Dingen Mangel und einzig an schwärmerischen Ideen Überfluß haben! Wo leben denn diese Künstler? Auf den Hausböden, wie die Vögel des Himmels! Ich habe sie in Petersburg gesehen: das sind diese Allerweltskerle, die, mit phantastischen Kostümen angetan, sich des Abends auf ihren Buden zu versammeln pflegen, auf den Diwans herumliegen, Tabak rauchen, allerhand Unsinn schwatzen, sich gegenseitig Verse vorlesen, sehr viel Branntwein trinken und dann erklären, daß sie Künstler sind. Sie kämmen sich nicht, laufen in unordentlicher Kleidung umher . . .«
»Man sagte mir aber, daß die Künstler jetzt sehr geschätzt werden, Onkel,« versetzte Raiski. »Was Sie da sagten, mag vielleicht von einer früheren Zeit gelten. Aus der Akademie sind schon recht berühmte Leute hervorgegangen! . . .«
»Nun, gar so alt bin ich doch auch noch nicht, und die Welt habe ich mir immerhin ein wenig angesehen,« meinte der Onkel. »Du hast wohl etwas läuten hören, weißt aber nicht, auf welchem Turme es läutet. Berühmte Leute! Gewiß gibt es unter den Künstlern Berühmtheiten, ebenso wie unter den Ärzten – aber frage sie einmal, wann sie es zur Berühmtheit gebracht haben! Doch nur, als sie in den Staatsdienst getreten waren und den Rang eines Geheimrats erlangt hatten! Wenn solch ein Künstler eine Kathedrale baut, oder ein Denkmal für einen öffentlichen Platz geschaffen hat – dann verleiht man ihm wohl diesen Rang! Aber sie fangen in Jammer und Elend an, bei Wasser und Brot. Es sind ja auch zum größten Teil nur Freigelassene, Kleinbürger oder Fremde, ja selbst Juden, die sich diesen Berufen widmen. Die bittere Not treibt sie dem Künstlertum in die Arme. Und du – bist ein Raiski! Du hast Grundbesitz, hast dein gutes Auskommen. Gewiß, für die Gesellschaft ist es ganz nett, ein paar angenehme Talente zu besitzen: etwas auf dem Klavier vortragen, etwas ins Album zeichnen, eine Romanze singen zu können . . . Darum habe ich ja auch den deutschen Musiklehrer für dich engagiert. Aber daß du ein Künstler von Beruf werden willst – das finde ich einfach abgeschmackt! Hast du jemals von einem Fürsten oder Grafen gehört, der ein Bild gemalt, oder von einem Edelmann aus altem Geschlecht, der eine Statue modelliert hätte?«
»Und Rubens?« fiel Raiski plötzlich ein, »der lebte doch am Hofe, war Gesandter . . .«
»Wo holst du auch deine Beispiele her! Das war vor zweihundert Jahren,« sagte der Vormund, »dort irgendwo bei den Deutschen . . . Nein, es ist schon richtiger, du trittst in die Universität ein, in die juristische Fakultät, dienst in Petersburg, arbeitest dich tüchtig ein, wirst Staatsanwalt oder Kammerjunker, was dir bei deinen Familienverbindungen nicht schwer fallen wird. Wenn du die Augen offen hältst, kannst du bei deinem Namen und deiner Herkunft mit dreißig Jahren Gouverneur sein. Das ist die Karriere, die dir winkt! Ich sehe nur leider keinen Ernst bei dir: du fängst mit den kleinen Dorfjungen Fische, zeichnest eine Sumpflandschaft, einen betrunkenen Bauern vor der Dorfschänke . . . Du läufst in Wald und Feld umher, und es fällt dir nicht ein, einmal einen Bauern danach zu fragen, wie die Ernteaussichten sind, was für eine Getreideart da wächst, wann gesät wird, ob die Getreidepreise sich halten . . . nichts, gar nichts! Nicht einmal zum Landwirt hast du das Zeug!
Der Onkel seufzte, und Raiski schaute düster