in hundert Jahren sich erworben hätte.
Er war jedoch damit noch nicht zufrieden, daß er zweimal täglich im Hause vorsprechen, ihnen Bücher und Noten bringen und uneingeladen zum Mittagessen kommen durfte. Er war an die freieren Sitten der neuen Zeit und den ungezwungenen Verkehr mit Frauen gewöhnt – Sophie aber war nur selten mit ihm allein, stets war die eine oder andere der beiden Tanten anwesend, und die Unterhaltung ging kaum jemals über das Gebiet des Alltäglichen und die Erinnerungen der Familie hinaus.
Wandte sich das Gespräch wirklich einmal einer bedeutsamen, tiefer ins Leben eingreifenden Frage zu, so drückten ihm die beiden Alten sogleich mit feierlicher Miene das Siegel ihrer Autorität auf.
Inzwischen empfand Raiski den lebhaftesten Wunsch, dahinter zu kommen, wes Geistes Kind eigentlich diese Sophie Nikolajewna Bjelowodowa war. Für die Gesellschaft war sie die schöne Frau von guter Erziehung, feinem Ton und vornehmem Hause, aber nicht darauf kam es ihm an. Er wollte vielmehr das Weib in ihr kennenlernen, wollte ergründen und feststellen, was sich unter dieser ruhigen, unbeweglichen Hülle der Schönheit verbarg, die immer gleichmäßig strahlte, nie auf etwas einen jähen, flammenden oder auch nur müden, gelangweilten Blick warf und sich nie ein ungeduldiges, unvorsichtiges oder heftiges Wort entschlüpfen ließ.
Schön aber war sie in der Tat. Es machte nichts aus, daß sie eine Witwe, eine Frau war; auf ihrer offenen, milchweißen Stirn und den edlen, ein wenig starken Zügen des Gesichtes lag eine jungfräuliche, fast kindliche Unbekanntschaft mit dem Leben.
Es schien, als habe sie noch nichts davon gehört, daß es Leidenschaften und Kummer in der Welt gibt und ein wildes Spiel der Geschehnisse und Gefühle, das den kindlichen Glanz von den Gesichtern verwischt und den Menschen Flüche auf die Lippen legt.
Eine gleichförmige, matte Glut lag in den großen, graublauen Augen. Zuweilen schien es wie ein Gefühl darin aufzuflackern – man konnte nicht sagen, daß sie eine herzlose Frau sei. Es war aber nur ein Gefühl unbestimmten Wohlwollens gegen alles in der Welt – wie es aus den Augen satter, sorgloser Leute strahlt, denen es an nichts mangelt, die keine Not und keinen Kummer kennen. Sie hatte dunkles, fast schwarzes Haar, und die dichten schweren Flechten im Nacken vermochten die Nadeln kaum festzuhalten. Schultern und Brust waren von üppiger Fülle.
Die Farbe des Gesichts, der Schultern, der Hände war frisch und rein, von blühender, durch Krankheit oder Entbehrungen nicht beeinträchtigter Gesundheit. Die Art, wie sie sich trug, machte bei aller Einfachheit einen vornehmen Eindruck. Der Stoff ihrer Kleider war von besonderer Art, und ihre Schuhe waren ganz anders, als man sie sonst trug.
Wie ein herrliches Gemälde, eine schöne Vision war sie an jenem ersten Ballabend Raiski erschienen. Das zweitemal hatte er sie nur von weitem im Theater gesehen, das drittemal wieder bei einem Balle, dann auf der Straße – und jedesmal war das Gemälde in seinem Glanz und seinen Farben sich selbst gleichgeblieben. Vergeblich hatte er sich bemüht, mit eindringlichem Blick in ihren Gedanken, ihrer Seele zu lesen und zu ergründen, was sich eigentlich unter der schönen Hülle verbarg: er hatte nichts herausgelesen außer dieser unergründlich tiefen Ruhe. Immer noch erschien sie ihm wie ein Gemälde oder eine schöne Museumsstatue.
Man fand allgemein, sie sei das Muster einer vornehm erzogenen Aristokratin, einer Dame comme il faut, und man bedauerte, daß sie noch nicht wieder vermählt war, erwartete jedoch mit Bestimmtheit, daß über kurz oder lang Gott Hymen ihr wieder seine Fesseln anlegen würde.
Im engeren Kreise der Familie, der Tanten, Onkel und sonstigen älteren Verwandten suchte man eifrig in diesem oder jenem Kavalier, der sich ihr näherte, ihren zukünftigen Gatten zu erraten: bald erschien irgendein Gesandter auffallend häufig im Hause, bald ein General, der sich irgendwo besonders ausgezeichnet hatte; und einmal war sogar allen Ernstes von einem älteren Herrn aus königlichem Geblüt – einem Ausländer – die Rede. Sie schwieg zu allem und schaute sorglos drein, als ob es sich gar nicht um ihre Person handelte.
Die anderen fanden dieses Verhalten ganz natürlich, ja sogar sehr »sublim«. Nur Raiski suchte – Gott weiß, aus welchem Grunde – sie aus dieser Reserve herauszulocken und wollte um jeden Preis das Geheimnis ihres Wesens ergründen.
Sie verfolgte seine Anstrengungen mit einem freundlichen Lächeln. Nicht eine Miene ihres Gesichts verriet einen lebhafteren Wunsch, eine Aufwallung, eine tiefere Regung. Vergeblich forschte er, wenn er mit ihr im Theater saß, zu ihrem Gesichte, ob vielleicht ein leidenschaftlicher Schrei oder sonst ein starker Vorgang auf der Bühne sie lebhafter bewegte. Sie verfolgte den Gang der Handlung ohne jede Spur jenes naiven Mitgefühls, jener Spannung, die das übrige Publikum gefesselt hielt. Und auch eine komische Szene, eine lustige Karikatur auf das Leben, die sonst ein allgemeines Lachen beim Publikum hervorrief, entlockte ihr nur ein leichtes Lächeln, das höchstens ein flüchtiger Blick des Einverständnisses zu ihrer Logennachbarin hinüber begleitete.
Und dabei war sie verheiratet! dachte Raiski und konnte sich nicht genug wundern.
Bald nachdem er die Bekanntschaft der Pachotins gemacht hatte, führte er seinen Kollegen Ajanow im Hause ein – er sollte den Tanten zweimal in der Woche eine Kartenpartie arrangieren. Er selbst benutzte die Gelegenheit, sich an diesen Spielabenden nach Möglichkeit der Cousine zu nähern und machte – weshalb und warum, wußte er selbst nicht zu sagen – alle nur erdenklichen Anstrengungen, Schritt für Schritt in das Wesen dieser seltsam stillen Schönen einzudringen.
Viertes Kapitel
Man saß bereits bei Tisch, als Nikolaj Wassiljewitsch das Speisezimmer betrat. Er trug ein kurzes Jackett, eine tadellos gebundene Krawatte und eine blendend weiße Weste; er war frisch rasiert, das schöne weiße Haar duftete nach Parfüm, seine ganze Erscheinung verriet das Bemühen, recht jugendlich auszusehen.
»Bonjour, bonjour!« rief er und nickte, als Antwort auf den Gruß der anderen, nach allen Seiten mit dem Kopfe. »Ich speise heut nicht mit Ihnen, meine Herrschaften, ne vous déranges pas,« sagte er, als man ihn zum Platznehmen einlud. »Ich mache eine Landpartie.«
»Eine Landpartie! Ich bitte dich, Nicolas!« sagte Anna Wassiljewna. »Der Schnee ist ja noch gar nicht weg . . . Du sehnst dich wohl wieder nach deinem Rheumatismus?« Pachotin zuckte die Achseln.
»Was soll ich machen! Ce que femme veut, Dieu le veut! La petite Nini hat sich gestern von Viktor nach seiner Villa einladen lassen: ›Ich möcht’ mal frische Luft schnappen,‹ meinte sie – na, und da will ich eben mit hinaus! . . .«
»Bitte, bitte!« rief Nadjeschda Wassiljewna mit einer abwehrenden Handbewegung. »Sparen Sie sich die Details für diese petite Nini!«
»Sie riskieren, sich zu erkälten,« sagte Ajanow. »Ich habe in meinem dicken Paletot gefroren.«
»Ah, mon cher Iwan Iwanowitsch: hätten Sie Ihren Pelz angezogen, dann hätten Sie nicht gefroren! . . .«
»Eine Landpartie in Pelzen!« bemerkte Raiski ironisch.
»Eine Landpartie – du stellst dir natürlich gleich grüne Fluren, murmelnde Bäche, hellen Sonnenschein und Hirtenknaben, vielleicht gar Hirtenmädchen vor. . . Du bist eben ein Künstler! Denk’ dir die Sache aber mal ohne das Grün, ohne die blumigen Fluren . . .«
»Ohne den Bach und ohne die Sonne . . .« fiel ihm Raiski ins Wort.
»Ganz recht, nichts weiter als Landluft . . . na, und die kann man doch auch im Zimmer einatmen! Den Pelz zieh’ ich auf alle Fälle an . . . und unter den Hut nehme ich meine Samtkappe, es brummt mir nämlich seit gestern so im Kopfe, als ob ich in einem fort Glockengeläute hörte; wie ich gestern im Klub war, wurde neben mir deutsch gesprochen, und mir war’s, als knacke jemand Walnüsse . . . Aber die Partie mache ich dennoch mit! . . . O, diese Frauen!«
»Auch ein Don Juan, was?« bemerkte Ajanow leise zu Raiski.
»Ja, auf seine Art. Ich kann nur wiederholen: der Typus des Don Juan existiert in ebenso zahllosen Abarten wie der des Don Quixote. Dieser hier hat das künstlerische Empfinden für die Schönheit verloren, seine Begeisterung ist von grober, sinnlicher Art . . .«
»Du hast dir da ja anscheinend eine ganze Metaphysik der Schönheit ausgetüftelt!«
»Die Frauen,«